«Avatar: The Way of Water»: Du glaubst, alles gesehen zu haben? Denk nochmal drüber nach
Filmkritik

«Avatar: The Way of Water»: Du glaubst, alles gesehen zu haben? Denk nochmal drüber nach

Luca Fontana
12.12.2022

Es mag nicht das meisterwartete Kinospektakel des Jahres sein, aber bestimmt das schönste: «Avatar: The Way of Water» ist nicht nur ein Genuss fürs Auge, sondern hat mich so tief bewegt wie lange kein Film mehr.

Eines vorweg: In diesem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.


«Atme, Luca. Atme.» Es ist, als ob eine Stimme aus einer fremden Welt zu mir spricht. «Wach auf», sagt sie sanft.

«Ich will nicht», antworte ich. «Lass mich noch ein bisschen länger bleiben, hier auf Pandora, dem fünften Mond des Gasriesen Polyphemus. Lass mich noch etwas bei den uralten Meeresvölkern verweilen. Bei den mächtigen Felsen der drei Brüder, dem stürmischen Meer trotzend. Und bei den Tulkun, riesigen Wal-ähnlichen Wesen, die wie Nomaden von Ort zu Ort ziehen. Bitte…»

Es ist schwierig, auf Wiedersehen zu sagen.
Es ist schwierig, auf Wiedersehen zu sagen.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Aber die Stimme – die Realität –, wird ungeduldig. Plötzlich geht die Beleuchtung an, das gleissende Licht holt mich zurück in den Kinosaal, in dem ich schon lange vergessen hatte zu sitzen. Vor mir läuft der Abspann: «Avatar: The Way of Water», die Fortsetzung von «Avatar», ist vorbei, und ich weiss noch gar nicht so recht, wie ich das Gesehene in Worte fassen soll.

Darum geht's in «Avatar: The Way of Water»

Als die Himmelsmenschen von Pandoras einheimischen und tödlichen Waldvölkern der Na’vi besiegt wurden, schien Frieden eingekehrt zu sein: Die Menschen waren auf die Erde zurückgekehrt. Die Zeit, in der sie den fernen Mond wegen seines wertvollen Rohstoffs ausgebeutet hatten, war vorbei. Zumindest dachten das Jake Sully (Sam Worthington) und Neytiri (Zoe Saldana). Zusammen gründeten sie eine Familie: zwei Buben, ein Mädchen und eine Adoptivtochter, Kiri (Sigourney Weaver). Alles war gut.

Über ein Jahrzehnt hielt der Friede an. Aber die Erde liegt im Sterben, und die Menschheit braucht eine neue Heimat. Mit neuen Technologien, Waffen und Armeen kehren die Himmelsmenschen nach Pandora zurück, unerbittlicher denn je. Und mit ihnen ein alter, totgeglaubter Feind.

Zurück nach Hause, nach Pandora

Eine Sekunde. Genau so lange braucht Regisseur James Cameron, um mich und mein gesamtes Mindset zurück nach Pandora zu bringen. Dabei hatte ich schon lange vergessen, wie das Gefühl war, 2009 zum ersten Mal zu dieser fremden und doch vertrauten Welt aufzubrechen. Zwischenzeitlich waren mir die geplanten Fortsetzungen auch völlig egal. Mal hiess es, die erste Fortsetzung käme 2014 ins Kino. Dann 2017. 2018. 2020. Dann kam die Pandemie.

Es schien, als ob es «Avatar» nie gegeben hätte. Und wenn, dann kämen die Fortsetzungen viel zu spät. Die Welt hat sich längst weitergedreht. Marvel und DC dominieren die grossen, visuellen Kinospektakel – ausserhalb von Superhelden-Verfilmungen lässt sich die breite Masse kaum mehr vor die grosse Leinwand locken.

Aber dann: diese eine Sekunde.

Jake Sullys Sohn Loak auf der Pirsch – ein nur allzu vertrautes Bild.
Jake Sullys Sohn Loak auf der Pirsch – ein nur allzu vertrautes Bild.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Hätte ich jemals gedacht, dass mich der Anblick der Hallelujah-Berge auch 13 Jahre nach dem ersten Teil noch einmal aus den Latschen hauen könnte? Überhaupt nicht. Mittlerweile habe ich eh alles, was mich überraschen könnte, schon einmal auf der grossen Leinwand gesehen.

Und doch sitze ich da, die mächtigen Gesteinsmassen bestaunend, die noch immer majestätisch über der Oberfläche des Mondes schweben. Wurzelwerke, Lianen und Gestrüpp wuchern und verbinden die Felsen mit der Bodenvegetation. Im Hintergrund höre ich das altbekannte musikalische Thema, anno dazumal vom mittlerweile tragisch verstorbenen Filmkomponisten James Horner geschrieben – «Iknimaya - The Path to Heaven». Gänsehaut. Es ist, als ob ich nie weg gewesen wäre. Als ob wieder 2009 wäre. Als ob all die Wunder des Kinos noch vor mir lägen.

Fast möchte ich weinen vor Glück.

Der Regisseur und seine Vision

James Camerons Script – Cameron inszeniert seine Filme nicht nur, er schreibt sie auch selbst – fackelt nicht lange rum. Action hat «Avatar: The Way of Water» mehr als genug. Dazu markiert die Ankunft der Himmelsmenschen den Anfang einer Hetzjagd, die sich bis zum Ende durchzieht. Das ist clever: Der Film mag mit einer Laufzeit von 3 Stunden und 12 Minuten zwar unendlich lang wirken. Doch gerade weil wir Zuschauende zu jeder Zeit genau verstehen, inwiefern sich die Lage zuspitzt, können wir nicht anders, als gebannt der Geschichte zu folgen. Selbst dann, wenn sie sich viel Zeit nimmt, uns die neuen Völker, Kulturen und Charaktere zu erklären.

Im Laufe von «Avatar: The Way of Water» lernen wir ein komplett neues Volk samt Kultur und Folklore kennen.
Im Laufe von «Avatar: The Way of Water» lernen wir ein komplett neues Volk samt Kultur und Folklore kennen.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Gerade Letzteres zahlt sich aus. Das sagte ich schon im digitec Podcast zur Star-Wars-Serie «Andor»: Sind dir Charaktere egal, kann keine Spannung aufkommen. Filmstudios versuchen aber immer wieder, vermeintlich zu lang geratene Filme zu kürzen, weil sie uns nicht zutrauen, mehr als zwei Stunden konzentriert zu bleiben. «Action sells», heisst es da. Darum sind es oft die ruhigen Momente, in denen nicht allzu viel passiert, aber den Charakteren Tiefe geben, die der Schnittschere zum Opfer fallen. Darunter leidet später die Spannung.

Allerdings verantwortet James Cameron mit «Titanic» und «Avatar» zwei der erfolgreichsten Kinofilme aller Zeiten. Genau darum ist sein Name schon lange gross genug, um tun und lassen zu können, was er will, ohne dass das Studio ihm reinredet. Sony baute seinetwegen sogar eine komplett neue Filmkamera – das Venice-Kamera-System –, um «The Way of Water» zu drehen. So viel Gewicht hat sein Name in der Industrie. Kein Wunder: «Avatar» war es auch, der 2009 den ersten grossen 3D-Boom in Kinos ausgelöst hatte, der mittlerweile aber wieder abgeflacht ist. Mit den damit verbundenen Ticket-Zuschlägen bescherte er Kinobetreibern und Studios viele zusätzliche Einnahmen. Sowas vergisst man ihm nicht.

James Cameron (68), der wohl ambitionierteste Regisseur der Welt.
James Cameron (68), der wohl ambitionierteste Regisseur der Welt.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Cameron nutzte seine Narrenfreiheit geschickt. Angefangen mit einer Filmlänge, die kein Studio der Welt einfach so durchgehen lassen würde. Auch nicht Disney, das erst vor ein paar Jahren 20th Century Fox und damit die Filmrechte von «Avatar» gekauft hat. Und doch ist «The Way of Water» eine halbe Stunde länger geworden als sein Vorgänger. Auch das ein Indiz für Camerons Stand. Diese zusätzliche Zeit, die in die Vertiefung der Charaktere und Mythologie Pandoras investiert wird, zahlt sich aus. Besonders am Ende, beim grossen Showdown. Keine Sorge, ich verrate nichts. Aber ich habe jede einzelne Sekunde davon gelitten – und genossen. So funktioniert Spannung.

Das Wasser, Camerons grosse Liebe

Aber was kann eine Fortsetzung, die 13 Jahre auf sich warten lassen hat, überhaupt noch bieten? Nun, tatsächlich überraschend viel. Dabei hätte ich es besser wissen müssen: Cameron wäre nicht Cameron, wenn er so lange an Story, Kamerasystemen, Algorithmen und Tauchtrainings für seine Schauspiel-Riege gewerkelt hätte, um letztlich nur «more of the same» zu bieten.

Zugegeben: Das Story-Rad erfindet «The Way of Water» bestimmt nicht neu. Es bietet aber deutlich mehr als eine offensichtliche Abkupferung aus «Pocahontas» und «Dancing with Wolves», wie es noch im ersten Teil war. Gerade die Familiendynamik rund um Jake, Neytiri und ihre Kinder gibt der Fortsetzung eine deutlich reifere Note. Sie bietet sogar die eine oder andere Überraschung. Dramatik. Und Romantik… Zumindest ein wenig.

Dazu kommen diese Unterwasserwelten. Oh Mann. Gerade dann, wenn ich nach dem ersten Filmdrittel das Gefühl hatte, mich womöglich doch noch an den wunderschönen, aber letztlich bereits bekannten Regenwäldern Pandoras sattgesehen zu haben, ändert Cameron die Regeln. Oder besser: den Schauplatz. Wie in aller Welt das ausschliesslich am Computer entstanden sein soll, will mir nicht in den Kopf. Zu plastisch das Wasser. Zu traumhaft die Ufer, die Gischt und die Strände. Zu realistisch das Brechen des Lichts unter der Oberfläche, oder die Form selbiger, wenn die Charaktere von unten darauf blicken. Dazu die Texturen der Felsen und die farbigen Korallenriffe. Aber mehr als alles andere die lebendig wirkenden Meeresbewohner in all ihren Formen und Farben, wie sie elegant durch die Ozeane streifen und Töne wie Wale oder Delfine von sich geben. Alles strotzt dabei so sehr vor Liebe und Detailversessenheit, dass es schier unglaublich ist.

«Was ist nur los mit dir? Seit wann bist du so sentimental?», denke ich mir. Denn schon zum zweiten Mal droht mir die Wucht der Bilder, Freudentränen in die Augen zu treiben.

Dass nichts in diesem Bild echt sein soll, nicht mal die Wasseroberfläche, will mir nicht in den Kopf.
Dass nichts in diesem Bild echt sein soll, nicht mal die Wasseroberfläche, will mir nicht in den Kopf.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Ohne Zweifel: Technisch ist «The Way of Water» schlichtweg atemberaubend, eine geradezu triumphale Errungenschaft der Computereffekte, und das in jeder einzelnen Einstellung. Dass die Schönheit der Meere mich derart frontal trifft, ist allerdings das erste am Film, das mich nicht überrascht. Schliesslich zieht sich James Camerons Liebe zum Wasser durch seine ganze Karriere. Angefangen mit dem Fantasy-Unterwasser-Thriller «The Abyss» über «Titanic» und seinen darauffolgenden Tiefen-Tauchgängen bis hin zum ersten «Avatar»-Film.

Wir erinnern uns: Die vielleicht grösste Faszination von «Avatar» lag in dessen Regenwäldern. Gerade nachts verwandelte sich dort alles Lebende in ein biolumineszierendes Naturschauspiel aus der Tiefsee, das die Welt noch nicht gesehen hatte – einfach an der Oberfläche.

Mit «The Way of Water» muss sich Cameron wohl eine Art Traum erfüllt haben, und der wirkt ansteckend. Ihm und seinem Kreativteam wurden nämlich auch keine finanziellen Grenzen gesetzt. 250 Millionen Dollar soll der Film gekostet haben, und jeden einzelnen davon sieht man: Gefühlt 60 Prozent der Laufzeit spielt unter Wasser. Wenn nicht sogar mehr. Überhaupt mussten Cameron und sein Special-Effects-Team jahrelang daran tüfteln, das Motion- und Performance-Capture-System unterwassertauglich zu machen. Nur so konnten die Performances der Schauspielenden auf eine Computerfigur übertragen werden.

Fazit: Das schönste Spektakel des Jahres

«Avatar: The Way of Water» hätte vieles sein können. Repetitiv. Uninspiriert. Unnötig. Gerade, wenn ich bedenke, wie viel Zeit seit dem ersten Teil verstrichen ist. Zu lange Pausen zwischen Filmen desselben Franchises wirken oft lähmend, wenn es darum geht, die Magie des Vorgängers zu reproduzieren. Daran scheiterte schon die «Hobbit»-Trilogie. Oder schlimmer: «Matrix: Resurrection».

James Cameron ist aber dafür bekannt, notorisch lange Pausen zwischen seinen Filmen einzulegen – zwischen «Titanic» und «Avatar» lagen auch schon zwölf Jahre und zwischen «Terminator 2» und «Titanic» deren sechs (okay, dazwischen machte er auch noch den Thriller «True Lies»). Tatenlos ist Cameron aber nie. Denn die Pausen nutzte er, um die Filmindustrie und deren technologische Standards auf Vordermann zu bringen. Nur so konnte er seine Visionen verwirklichen.

«Avatar: The Way of Water» ist ein Film, in dem Spektakel auf Schönheit trifft.
«Avatar: The Way of Water» ist ein Film, in dem Spektakel auf Schönheit trifft.
Quelle: Disney / 20th Century Studios

Das hat «The Way of Water» ganz offensichtlich gutgetan. Visuell ist der Film nicht nur das bildgewaltigste, sondern vor allem das schönste Kinospektakel, das ich je gesehen habe. Wer sich das nicht im Kino antut – wenn möglich auf 3D –, ist selbst schuld. Dazu kommt, dass die Fortsetzung sogar auf erzählerischer Ebene Fortschritte gemacht hat und tiefer in Pandoras Mythologien eintaucht denn je. Diesbezüglich war der erste Teil noch etwas dürftig. Aber so stelle ich fest, dass «Avatar: The Way of Water» meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertrifft. Und seit ich diese Zeilen zu schreiben begonnen habe, beherrscht mich eigentlich nur ein Gedanke:

Ich will zurück. Zurück nach Pandora.


«Avatar: The Way of Water» läuft ab dem 14. Dezember im Kino. Laufzeit: 192 Minuten. Freigegeben ab 12 Jahren.

Titelfoto: Bild: Disney / 20th Century Studios

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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