
Hintergrund
Zu Besuch beim Hersteller der Digitec-Charger
von Simon Balissat
Chinas Veloverleiher waren die Hoffnung der Grossstädte gegen den Stau. Doch sie schufen ein neues, gigantisches Chaos. Das Spannende dabei: Die Mechanismen, die dazu führten, haben sehr viel mit den Internetfirmen des Silicon Valley gemeinsam.
Dies hätte ursprünglich ein Beitrag über die Logistik von Fahrradverleihsystemen werden sollen. Wie schaffen es Anbieter, dass überall genügend Velos vorhanden sind und nirgends zu viele? Solchen und ähnlichen Fragen wollte ich nachgehen.
Doch Bilder wie dieses zeigen mir eindrücklich: Mit der Verteilungslogistik ist es offensichtlich bei vielen Anbietern nicht allzu weit her.
Eine ganz andere Frage drängt sich auf: Was läuft hier schief – und wieso?
Ursprünglich waren die meisten Vermietungssysteme stationsgebunden. Bei solchen Systemen können Velos nur an einer Sammelstation gemietet und zurückgebracht werden. Somit fährst du nicht bis zu deinem Ziel, sondern nur in die Nähe. Damit entfällt einer der grössten Vorteile des Velos in der Stadt. Und auch für die Anbieter sind Stationen nicht ideal. Parkplatzflächen müssen gemietet werden und es braucht «vandalensichere» Andockstellen.
Auf diesen Erfahrungen gründet die Idee der stationslosen Systeme. Das Velo wird einfach irgendwo abgestellt. Mit einer App lässt es sich auf- und abschliessen und mit Hilfe von GPS kannst du das nächstgelegene Velo orten.
Das ist nicht nur sehr flexibel, sondern öffnet auch Tür und Tor zum totalen Chaos. Wenn du dich über herumstehende O-Bikes genervt hast, lass dir gesagt sein: Das ist überhaupt nichts im Vergleich zu dem, was 2017 in China abging.
Das sind keine Kornfelder, das sind Velofelder. Aufgenommen mit einer Drohne in der Nähe von Shanghai.
China war lange Zeit ein Veloland. Noch 1986 entfielen in Peking 63 Prozent des Verkehrs auf das Fahrrad. Bis zu 72 Velos kamen auf 100 Personen, und Autofahrer war ein Beruf wie bei uns Lastwagenfahrer. Doch China holte schnell auf. 250 Millionen Autos gibt es heute im Land – vor sieben Jahren waren es noch halb so viele. Die Nebenwirkungen des Verkehrsbooms sind bekannt: Smog in nie gekanntem Ausmass und ein gigantisches Verkehrschaos.
Den Behörden war klar: Wenn es gelänge, einen Teil der Autofahrer wieder aufs Velo zu bringen, könnte das Problem deutlich entschärft werden. Bestrebungen mit staatlichen Velostationen gibt es bereits seit 2007, doch die paar Tausend Velos bleiben ein Tropfen auf den heissen Stein. Die chinesischen Städte brauchten viel mehr öffentliche Velos. Stationslose Systeme schienen die Lösung zu sein. Damit ist es viel einfacher, die Stadt mit genügend Velos zu versorgen.
Das erklärt aber noch nicht, wieso es innert kürzester Zeit zu einer massiven Überproduktion kam, mit meterhoch aufgeschichteten Bergen von nie benutzten Velos.
Natürlich holt China nicht nur bei den Autos in horrendem Tempo auf. Im Tech-Bereich ist China längst viel mehr als nur die Hardware-Fabrik des Planeten. Unzählige Startups und einige Internetgiganten hat das bevölkerungsreichste Land inzwischen hervorgebracht. Und damit auch eine Branche, die derjenigen des Silicon Valley sehr ähnelt. Die Mechanismen, die zum Millionenmüll im chinesischen Bike Sharing geführt haben, sind im Prinzip die gleichen wie die, nach denen die Internetfirmen des Silicon Valley funktionieren.
Google wurde nicht bloss wegen der genialen Suchmaschine zum Internetgiganten. Zur Erfolgsstrategie des Konzerns gehört seit je her, möglichst viele nützliche Tools gratis anzubieten. Google Mail, Google Docs, Google Drive, Youtube, Picasa, Google Earth, Maps und Street View sind nur einige Beispiele. Mit Youtube machte Google zeitweise unglaubliche Verluste: mehr als eine Million Dollar pro Tag. Wachstum um jeden Preis heisst das Motto, selbst wenn der Konzern dabei jahrelang Milliardenverluste einfährt.
Den Weg von Google versuchen unzählige Startups zu beschreiten. Die wenigsten mit Erfolg. Das gehört zum Prinzip – denn es geht ja darum, ein Monopol in einem bestimmten Bereich zu schaffen, also alle anderen rauszukegeln. Genau das versuchten auch die chinesischen Bike-Startups.
Die Bike-Sharing-Anbieter fluteten die Städte nicht nur mit billigen Velos, weil viele Leute ein Velo brauchten. Sondern auch, um die Konkurrenz auszustechen. Für die Kunden ist derjenige Anbieter der beste, von dem an jeder Ecke ein Velo steht. Günstig und jederzeit verfügbar – wie die Webdienste der erfolgreichen Startups.
Wenn der Konkurrent bereits viele und günstige Velos hat, gibt es nur eines: Noch mehr Velos aufstellen und noch günstiger sein. Tatsächlich waren und sind in China kürzere Fahrten oft gratis und die Gebühren allgemein so tief, dass die Systeme nie und nimmer hätten rentabel werden können. Eine Fahrt kostet nur einige Rappen, damit können die Velos nicht amortisiert werden.
Als Folge der Überflutungsstrategie standen in Peking und Shanghai Ende 2017 so viele Velos herum, dass die Velofahrer kaum noch zwischendurch fahren konnten.
Um Wachstum ohne Gewinn zu erreichen, brauchen Startups potente und grosszügige Geldgeber. Das gilt für die chinesischen Veloverleiher genauso wie für die Neugründungen im Silicon Valley. Für die Investoren bringt eine einzige wirklich erfolgreiche Idee dermassen viel Geld, dass dies zehn oder hundert Fehlinvestitionen wettmacht. Entsprechend grossflächig investieren sie.
Das scheint auch in China der Fall zu sein. Das Startup Mobike hatte zum Beispiel schon früh Foxconn als Investor gewinnen können. Später erhielt Mobike 600 Millionen Dollar von Tencent, dem chinesischen Techgiganten, dem WeChat gehört. Trotzdem steckte das Unternehmen in grossen finanziellen Schwierigkeiten und machte bis zu 16 Millionen Yuan Verlust pro Tag. Das sind über 2 Millionen Schweizer Franken. Doch der Online-Konzern Meituan Dianping kaufte das Startup kurzerhand auf.
Dadurch war Mobike finanziell abgesichert und konnte noch aggressiver zu Werke gehen. Die Folge: Zur Nutzung der Velos musste kein Depot mehr bezahlt werden. Damit trat Mobike in den Endkampf des Verdrängungswettbewerbs ein, den ausser dem härtesten Konkurrenten Ofo keiner überlebte. Zwischen Juni und November 2017 gingen die Bike-Sharing-Firmen gleich reihenweise bankrott. Zu den Opfern zählen Bluegogo, Wukong, Kuqi Bikes, Dingding Bikes und 3VBikes. Obike aus Singapur folgte 2018. Die mit Abstand grössten Anbieter Ofo und Mobike überlebten, mussten aber ihre internationalen Expansionsbemühungen aufgeben und sich auf China beschränken.
Doch warum pumpen die Investoren Geld in eine Dienstleistung, die gar nicht rentiert? Höchstwahrscheinlich, weil sie glauben, dass das Geld auf einem anderen Weg wieder reinkommt. Google und Facebook haben das eindrücklich bewiesen. Ihre Dienstleistungen für die User sind gratis, und dennoch verdienen sie sich dumm und dämlich – durch den Verkauf von Werbung.
Der wichtigste Faktor ist auch hier die schiere Grösse. Bei Youtube liegt die Anzahl Views pro Tag bei mehreren Milliarden. Anzeigenplätze werden nach Leistung verkauft: Pro 1000 Views, Klicks oder ähnlichen Kennzahlen. Selbst wenn sie spottbillig zu kaufen sind, läppert sich für Youtube eine Menge Geld zusammen. Klassische Medien, die viel kleiner sind, können da nicht konkurrieren, sie würden nichts verdienen.
Der zweitwichtigste Faktor sind die Daten. Vor allem in Kombination mit der Grösse. Je mehr Daten eine Plattform hat, desto passender ist die Werbung. Zumindest ist dies das Versprechen, welches den Werbekunden gemacht wird.
Die Datenerhebung scheint auch beim Bike-Sharing das gewesen zu sein, was die Investoren anzog. Dadurch, dass die Velos mit GPS ausgestattet sind, lassen sich Daten über die Fahrten sammeln. Solche Daten könnte ein Bike-Sharing-Unternehmen zum Beispiel der Stadtverwaltung anbieten: Diese wüsste dann besser, wo Bedarf für neue Radwege besteht. Dies soll O-Bike der Stadt München angeboten haben, berichtet die «Zeit».
Aus diesen Daten könnten Analysten noch viel mehr herauslesen: Wo gestoppt und geshoppt wird, wo Ampelsysteme verbessert werden können, wo Unfälle passieren, wo Baustellen sind, etc. Wenn man die Möglichkeit zur Datenerhebung einmal hat, lässt sich das früher oder später auch in Geld umwandeln – das ist die Idee der Investoren.
Bekanntlich sind in den meisten Ländern die Verkehrsvorschriften weniger strikt als in der Schweiz – oder sie sind nur auf dem Papier streng. Die Veloflut der stationslosen Systeme setzt voraus, dass der Staat diese Unternehmen weitgehend gewähren lässt. In der Schweiz war dies nicht der Fall: Die Obikes aus Singapur wurden in vielen Städten kurzerhand konfisziert.
Auch in China zogen die Behörden die Schrauben an, nachdem das Chaos immer grösser wurde. Mehr Parkverbote für Velos und Durchsetzung mit Bussen, auch an die Bike-Sharing-Unternehmen.
Das erinnert an Startups wie Uber oder Airbnb. Für konventionelle Taxiunternehmen und Hotels gibt es eine Menge Vorschriften, die den Betrieb verteuern. Zum Beispiel Kurtaxen oder obligatorische Versicherungen. Die Startups foutieren sich des Öftern darum; sie behaupten, dass diese Regelungen für sie nicht gelten würden, da ihr Geschäft anders funktioniert. Viele dieser Fragen müssen vor Gericht geklärt werden. Zum Beispiel, ob Uber sich die Gesetze der Taxibranche befolgen muss, ob Uber-Fahrer selbstständig oder angestellt sind, oder was Airbnb-Vermieter dürfen und was nicht.
Klar ist: Je unregulierter ein Markt, desto besser für «disruptive» Startups. Und der chinesische Veloverkehr war die längste Zeit sehr unreguliert.
Fehlende Regulierung ist ein fruchtbares Feld für neue Ideen – oder auch schlicht fehlende Infrastruktur. Beim Bike Sharing geht es auch um mobile Bezahlsysteme, und diese sind in China ein Riesending. In der Schweiz, wo fast jeder ein Bankkonto und eine Maestro-Karte mit der Möglichkeit zum kontaktlosen Bezahlen hat, gibt es wenig Bedarf an Mobile Payment. Ganz anders in China, wo nahezu alle Konsumenten dauernd per Handy bezahlen. Es gibt hier einen Zweikampf WeChat gegen Alipay, die den beiden mit Abstand grössten Tech-Giganten Tencent und Alibaba gehören. Für sie ist Bike Sharing vermutlich ein Mittel, um ihre Payment-Systeme weiter zu verbreiten und wenn möglich ihre diversen Dienstleistungen mit Bewegungsdaten anzureichern. Die Firma Meituan Dianping, die Besitzerin von Mobike, wird ihrerseits von Tencent unterstützt, Hauptkonkurrent Ofo von Alibaba.
In Kaliforniens Tech-Startup-Szene ist der Wettbewerb genauso unerbittlich wie er unter den chinesischen Veloverleihern war. Von 10 Startups müssen 8 bis 9 schon in den ersten Jahren aufgeben, schätzen Marktforscher. Erfolgsstorys werden gerne und oft weitererzählt, während von all den gescheiterten Ideen und Unternehmern kaum etwas zu hören ist. Als Erfolg gilt heute schon, wenn es gelingt, das eigene Startup an einen grossen Konzern zu verkaufen.
Der grosse und offensichtliche Unterschied zwischen Silicon Valley und den Velo-Startups in China: Gescheiterte Internet-Startups hinterlassen keine sichtbaren Müllberge. Uber hat keine eigenen Autos, Airbnb keine eigenen Zimmer. Sie verstehen sich als reine Dienstleister.
Weil im Fall eines Flops nichts Sichtbares zurückbleibt, lässt sich die Tatsache, dass die meisten Ideen scheitern, problemlos ignorieren. Scheitern wird sogar als Tugend beworben: «Fail fast, fail often» lautet ein gängiger Spruch, mit dem auch kopfloses Handeln schöngeredet werden kann. Den Investoren ist es recht: Sie haben ein grosses Interesse daran, dass weiterhin möglichst viele innovative und intelligente Menschen das Abenteuer eines Startups wagen.
Die Schrotthalden bilden ein eindrückliches Mahnmal für eine Marktlogik, an die wir uns zwar gewöhnt haben, die aber eigentlich vollkommen absurd ist.
Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.