
Die Fans sind weg, der Heimvorteil nicht

Profifussball in der Pandemie ist eine traurige Angelegenheit für Fans und ein spannendes Setting für Forscher. Mehr als 1000 Geisterspiele in den wichtigsten europäischen Ligen zeigen: Der Einfluss von Fans auf den Heimvorteil wird überschätzt.
Zu den Glaubensgrundsätzen passionierter Fans gehört, dass sie der Heimvorteil sind. Die Ultras, die Leidenschaftlichen, die Mitfiebernden auf der Tribüne sehen sich als «zwölfter Mann». Sie schreien ihr Team zum Sieg, indem sie eine seelenlose Betonschüssel in einen Hexenkessel verwandeln. Und sie glauben daran, dass ihre Begeisterung von den Rängen in die Herzen der Spieler schwappt, die daraufhin den eingeschüchterten Gegner einfach überrennen. Stars und Fans als unzertrennliche Einheit – ein Narrativ, das die grossen Clubs gerne aufgreifen. Wie es aussieht, wenn sich Weltmarken volksnah zeigen wollen, hat zum Beispiel Paris St. Germain vor Kurzem unfreiwillig komisch demonstriert.
Die schöne Idee, im leeren Stadion «Ain’t No Sunshine» in die Kamera zu hauchen, hatte der Sponsor Qatar Airways gleich all seinen Klubs verordnet. Der FC Bayern, die AS Roma und die Brooklyn Nets führten genau dasselbe Rührstück auf. Wahrscheinlich scheint die Sonne in Katar immer noch, und auch die Klubs stehen nicht auf der Schattenseite des Lebens. Sie dürfen weiter antreten. Selbst wenn die Spieler die flirrende Stadionatmosphäre tatsächlich vermissen und die fehlenden Zuschauereinnahmen ein Loch in die Kasse gerissen haben: Auf den sportlichen Erfolg, auf den Ausgang der Spiele, haben die leeren Ränge wenig Einfluss.
You'll never win alone? Doch!
Inzwischen sind genug Profi-Partien unter Ausschluss von Zuschauern gespielt, um dem Mythos des Heimvorteils durch frenetische Fans zu ergründen. Forscher der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Paderborn haben insgesamt über 40 000 Spiele vor und während der Pandemie ausgewertet. Üblicherweise gewinnt in den europäischen Top-Ligen die Heimmannschaft mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 50 Prozent, während die Chancen des Auswärtsteams bei ungefähr 25 Prozent liegen.
Der Heimvorteil hat im Laufe der Jahrzehnte stark abgenommen. Doch es gibt ihn auch in der Pandemie noch, obwohl Geisterspiele das Geschehen auf dem Rasen verändert haben. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich zwar die spielrelevanten Parameter, wie Torschüsse sowie gelbe und rote Karten, ohne Zuschauer angleichen, sich dies aber nur begrenzt auf den eigentlichen Heimvorteil im direkten Vergleich zwischen den Spielen vor Covid-19 mit Zuschauern und den Geisterspielen während der Pandemie auswirkt», erklärt Professor Daniel Memmert in der Pressemitteilung zur Studie. Es kam ungefähr so, wie es der Wissenschaftler in diesem Video-Interview schon vor einem Jahr erwartet hatte.
Fans beeinflussen Schiedsrichter
Der Spielverlauf ist also ausgeglichener, seit keine Fans mehr im Stadion sind. Trotzdem gewinnt in der Regel das Heimteam. Dabei entscheidet auch der Schiedsrichter ausgeglichener, der sich von den Fans tatsächlich stark beeinflussen lässt. In Geisterspielen werden zehn Prozent mehr Fouls gegen den Gastgeber gepfiffen, er kassiert 22 Prozent mehr gelbe und 33 Prozent mehr rote Karten als vor vollen Rängen, wie ein Wissenschaftler der Universität Alicante publiziert hat.
Sein Datensatz umfasst Spiele aus 30 Ländern. Demzufolge haben sich die Siegchancen des Auswärtsteams ohne Publikum um vier Prozent erhöht. Der immer noch deutliche Heimvorteil entsteht also nur bedingt durch die Fans. Er lässt sich bis in die untersten Amateurligen beobachten und hat wohl mehr mit der vertrauten Umgebung als mit der Unterstützung von den Rängen zu tun. Wer jedes Schlagloch kennt und die Gegebenheiten zum eigenen Vorteil ausnutzt, kickt erfolgreicher. Gegen starke Gegner auf dem kleinsten verfügbaren Acker anzutreten, ist nicht nur in den untersten Ligen ein Klassiker. Am anderen Ende des Leistungsspektrums lies Real Madrid vor ein paar Jahren für ein Champions-League-Spiel den Platz im Rahmen des Erlaubten verbreitern, um seine Klasse besser ausspielen zu können.
Zahlen und Fakten hin oder her – am Ende wird der Fussball für die Gefühle geliebt. Dafür, dass unerklärliche Dinge passieren und mit Bedeutung aufgeladen werden können. Im Guten wie im Schlechten. Der FC Liverpool verlor bis zum 21. Januar 2021 ganze 68 Spiele lang nicht zuhause, um kurz darauf eine Negativserie von sechs Heimniederlagen in Folge zu starten. Beides ist möglich, egal ob die Fans im Stadion oder im Homeoffice durchdrehen.


Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.