«Digital Patina»: Für eine selbstbestimmte digitale Zukunft
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«Digital Patina»: Für eine selbstbestimmte digitale Zukunft

Pia Seidel
9.7.2020

Der Prototyp «Digital Patina» wandelt User-Daten in ein ästhetisches Interface um. Er stammt von Designer Felix Schulz, der zur Auseinandersetzung mit digitalen Spuren anregen möchte.

Bisher habe ich Zeitreisen mit analogen oder digitalen Fotoalben unternommen. Schon bald könnte dasselbe statt mit Fotos, mit meinen Datenspuren im Netz möglich sein: Das Master-Abschlussprojekt Digital Patina von Felix Schulz macht aus einem Browser-Verlauf und Web-Cookies ein visuelles Narrativ. Es soll veranschaulichen, welchen Einfluss mein Handeln und das meines «digitalen Zwillings» haben kann. Was das bedeutet, erklärt mir der frisch gebackene Master-Absolvent des Studiengangs «Trends und Identity» an der Zürcher Hochschule der Künste im Gespräch.

Was ist «Digital Patina»?
Felix Schulz: Das Digital Patina Interface ist Theorie und Experiment zugleich. Es gibt gesammelten Nutzerdaten eine Ästhetik, um dich über deine eigenen Spuren im Netz aufzuklären. Aktuell sind Cookies das Einzige, was Web-Verhalten aufnimmt und speichert. Das machen sie in schriftlicher, datenbasierter und nicht besonders anschaulicher Form. Mit dem Prototyp Digital Patina ist eine neue Vermittlung möglich, die für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Daten sensibilisieren soll.

Felix Schulz übersetzt die Logik analoger Spurenaufzeichnung ins Digitale.
Felix Schulz übersetzt die Logik analoger Spurenaufzeichnung ins Digitale.

Wie bist du darauf gekommen?
Gestartet ist das Projekt mit einem sehr kleinen Phänomen. Ich habe gelesen, dass es möglich ist, den Teletext alter VHS-Kassetten wieder herzustellen. Jemand hat dafür ein Programm für das Betriebssystem «Linux» geschrieben. Dazu benötigst du einen VHS-Rekorder sowie einen TV-Chip fürs Mainboard, mit dem das VHS-Videomaterial als TV-Signal eingespeist wird. Zum Schluss erhältst du den Teletext-Verlauf als Code zurück.

Was hat dich daran so fasziniert?
Ich wollte hinterfragen, was das eigentlich ist. Ein digitales Format in einem analogen Medium? Eine digitale analoge Spur, die nicht lesbar ist? Parallel dazu wollte ich der Frage nachgehen, wie digitale Produkte eigentlich altern. Der Office-Assistant «Clippy» bei Windows ist ein Beispiel dafür. Solche alten Benutzeroberflächen haben einen bestimmten Charme, geraten aber irgendwann in Vergessenheit und verlieren ihre Bedeutung. Das fand ich neben der romantischen Vorstellung vom Teletext interessant. Ich wollte herausfinden, wie diese Spuren des digitalen Gebrauchs positiv besetzt werden können. Dann ist der Begriff der Patina aufgetaucht, der eigentlich immer mit etwas Positivem verbunden wird.

Wie bist du vorgegangen?
Am Anfang habe ich viel recherchiert, wo die Wissenschaft eigentlich in der visuellen Umsetzung von digitalen Spuren und Räumen steht. Dann bin ich einen eher unorthodoxen Weg gegangen und habe zehn Interviews mit Personen vom Fach geführt. Fünf davon waren komplett aus dem analogen Umfeld: ein Bildrestaurator, ein Feinmechaniker, ein Paläontologe und zwei Archäologen. Allen habe ich dieselben Fragen gestellt. Was sind Spuren? Wie systematisiere ich sie? Wie mache ich sie sichtbar? Den gleichen Fragebogen habe ich fünf Personen gegeben, die im digitalen Bereich tätig sind: einem Backend Developer, einem UX Designer, einem Datenforensiker, einem Data-Scientist und einem Kriminaltechniker.

Was hast du bei der Auswertung der Antworten auf deine Fragen herausgefunden?
Mein Ziel war, Codes und Konzepte zu entwickeln, die sich mit der Systematisierung und Aufarbeitung von Spuren beschäftigen. Ich wollte eine theoretische Basis erstellen und klären, wie Spuren geclustert werden können. Mit dem Ziel, an unterschiedliche Unternehmen heranzutreten und ihnen ein Repertoire anzubieten, mit dem sich Spuren darstellen lassen.

Das 2D Interface wird zum 3D-Interface, das betrachtet und manipuliert werden kann. Bild: Felix Schulz
Das 2D Interface wird zum 3D-Interface, das betrachtet und manipuliert werden kann. Bild: Felix Schulz

Deinen Prototypen hast du dann eingesetzt, um in einem Onlineshop den Kauf einer Toilettenbürste zu zeigen. Welche Spuren werde hier sichtbar?
Bisher kennst du die normale zweidimensionale Website-Ansicht, in der sich keine Spuren zeigen. Mit Digital Patina, gäbe es einen Button zum Aktivieren, der die Benutzeroberfläche von 2D in 3D umwandelt und dir zeigt, was du in den letzten drei Jahren auf dieser Seite gemacht hast. Bei einem Onlineshop ist das zum Beispiel immer wieder die Customer Journey. Du könntest wie mit einem Metalldetektor über die Schichten fahren und beispielsweise nachvollziehen, durch welche Funnel du wann gekommen bist und das auf einer visuell interessanten Oberfläche. Es soll Spass machen, Spuren zu entdecken.

«Wir kommen zwar aus einem digital gebildeten Background. Das heisst aber nicht unbedingt, dass wir besser mit unseren Daten umgehen.»

Wieso war es dir wichtig, die Spuren räumlich zu gestalten?
Weil sie nicht nur auf flachen Oberflächen erscheinen. In der Archäologie legst Oberflächen Schicht für Schicht frei, um sie im Querschnitt betrachten zu können. Dabei wird mit mit Licht gearbeitet. Der Pathologe hat mir erzählt, dass nachts auf dem Strand mit Lichtstrahlern stundenlang nur anschaut wird, wo der Boden wie beschaffen ist und, wo er heller oder dunkler ist. In der Archäologie fliegt mittlerweile eine Drohne über Oberflächen und umzuschauen, wo beispielsweise Schnee schneller schmilzt. Es muss also eine Option geben, um näher an Dinge heranzukommen.

In der Komplexität ist Digital Patina noch nicht ganz ausgereift. Der erste Ansatz ist, dass dir Werkzeuge zur Verfügung stehen wie ein digitales Wattestäbchen, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Mit einem digitalen Spaten gräbst du dich durch eine Customer Journey oder Website-Historie. Es soll möglich sein, alte Strukturen zu klicken, sodass sie dann wieder nach oben kommen.

Das Wattestäbchen dient dazu, die digitale DNA – Ort, Zeit, IP-Adresse – eines Klicks aufzuschlüsseln. Bild: Felix Schulz
Das Wattestäbchen dient dazu, die digitale DNA – Ort, Zeit, IP-Adresse – eines Klicks aufzuschlüsseln. Bild: Felix Schulz

Kann ich mit den Werkzeugen die Patina nachträglich anders gestalten?
Ja genau. Ich möchte bezwecken, dass wir unseren digitalen Zwilling nicht mehr als notwendiges Übel betrachten, der möglichst abgeschirmt irgendwo existiert. Mein Ziel ist, aus ihm und den Daten etwas Interessantes zu machen und das Bewusstsein zu verändern. Mit dem Digital Patina Interface kannst du gewisse Infos zerstören und darüber entscheiden, was zu sehen ist.

Wieso möchtest du Nutzenden die Kontrolle über produzierte Daten geben?
In Sachen Datennutzung herrscht ein ungleiches Verhältnis. Du stimmst Cookies zu und bekommst auf deren Basis einen kostenlosen Service – ein «gutes» Angebot. Ein Unternehmen profitiert von dieser Datenerzeugung aber wesentlich mehr als umgekehrt wir als User. Es ist unangenehm, einer Regelung zuzustimmen, dessen Ergebnis ich nicht sehe. Wenn ich die Daten anders als in Textform sehen würde, kann ich das Ganze nachvollziehen und beeinflussen. Ich will dem Nutzer in seiner Position stärken. So haben sie gegenüber dem Unternehmen einen neuen Standpunkt.

Daten können auch für Dritte unbrauchbar gemacht werden. Bild: Felix Schulz
Daten können auch für Dritte unbrauchbar gemacht werden. Bild: Felix Schulz

Für wen ist Digital Patina?
Das Interface richtet sich an Unternehmen sowie Anwendende. Sobald noch offene technische Fragen geklärt sind, soll mit Digital Patina für dich eine neue Sicherheit entstehen. Und dir eine Antwort auf die Frage geben, wie sich digitales Vertrauen gestaltet. Wenn ich gesicherte Rahmenbedingungen habe, kann ich mich besser entscheiden und einem Unternehmen Vertrauen schenken.

Digital Patina soll Informatik-Komplexität reduzieren. Das sollte auch im Interesse eines Unternehmens sein. Wenn es sagt: Wir geben dir die Hoheit über deine Daten und die Entscheidungsgewalt zurück. Wir wollen sie immer noch nutzen, aber nur solche, die du zur Verfügung stellt – dann wäre es eher ein Verhältnis auf Augenhöhe und die Kundenbindung könnte besser werden. Ein Unternehmen, das sich nicht nur mit einem SEO-Text um die Customer Relation kümmert, wird wahrscheinlich bevorzugt. Du gehst vielleicht zu keinem Unternehmen mehr, das die Option der Digital Patina nicht hat.

«Je transparenter ein Unternehmen ist und erklärt, was mit den Daten der Cookies auf der Website passiert, desto weniger anti ist die Haltung gegenüber Datennutzung.»

Was ist der nächste Schritt?
Als erstes habe ich zwei Leute von der ETH Zürich gefunden, die Digital Patina als Inspiration sehen und Interesse haben, daraus eine Website zubauen. Diese wird zunächst Cursor-Bewegungen als Heatmap visualisieren und sie via Google Analytics interaktiv gestalten. Ausserdem möchte ich die Darstellung von Nutzungsbedingungen und Cookies optimieren. Das sind oft lange Texte. Wenn du dir das genauer anschaust, steht darin bei unterschiedlichen Unternehmen oft dasselbe drin. Ich stelle mir Videos vor, die visualisieren, was mit den Daten passiert, die du auf einer Website zukünftig produziert. Kunden sollten nicht durch lange Texte verschreckt, sondern zeitgemäss aufgeklärt werden.

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Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit. 


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