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Ein Krimi, zwei Autorinnen

Natalie Hemengül
11.3.2021
Bilder: Clémence Censi

Zwei Monate lang haben Kollegin Carolin und ich abwechslungsweise an einem Krimi geschrieben und wöchentlich ein Kapitel veröffentlicht. Du hast unsere literarischen Ergüsse verpasst? Hier findest du die gesamte Story zum Nachlesen und Mitfiebern.

Es war ein Tauziehen der anderen Art. In Zusammenarbeit mit Kollegin Carolin Teufelberger ist ein kurzer Krimi entstanden. Geschrieben haben wir ihn gemeinsam. Aber abwechslungsweise. Kapitel für Kapitel. Dabei hatte jede von uns ihre eigene Vision für den Lauf der Geschichte. Das bleibt dir beim Lesen bestimmt nicht unbemerkt. So gerät unser Protagonist Ephraim, ein Sonnenstorenweber mit der Seele eines Poeten, hie und da ins Wanken, während sich die Ereignisse mal überschlagen, mal im Stillstand verharren. Alles, während er versucht, ein Attentat aufzuklären – zusammen mit dir.

Die acht Kapitel wurden bereits einzeln im Wochenrhythmus auf Galaxus veröffentlicht. Hier kannst du die Story jetzt am Stück lesen. Dabei wirst du in jedem Kapitel ein verlinktes Produkt entdecken. Diese Produkte wurden von der Community reingevoted und mussten vom jeweiligen Kapitel-Autor als eine Art Challenge in die Story eingebaut werden. Alle weiteren Regeln findest du bei Interesse hier.

Und jetzt viel Spass beim Lesen!

Nagelregen im Schanfigg

Kapitel 1

Rachegelüste

Ephraim spürt seine Hände kaum mehr. Schnitte und Schwielen zieren seine schleifpapierraue Haut. Heute hat er sechs Sonnenstoren gefertigt. Bald werden sie über Balkonen von Leuten hängen, die der orange-braunen Stoffe überdrüssig wurden. Tag für Tag kreuzen sich die feinen Garne zum Metrum seiner Emotionen und werden zu Werken seiner persönlichen Wahrheit. Aufträge nimmt er keine entgegen. Künstler können keine Dienstleister sein.

In leicht gebückter Haltung trottet er zum Kühlschrank in der Ecke seiner Werkstatt und nimmt sich ein alkoholfreies Bier. Dem Alkohol hat er vor Jahren abgeschworen, unfreiwillig. Den Geschmack mag er noch immer, Süssgetränke oder gar Wasser sind kein würdiger Ersatz. Sein Blick fixiert die fertigen Storen.Ein sanftes Lächeln überkommt seine Lippen. Die Stoffe erzählen seine Geschichte.

Verloren neben einem Werkzeugregal steht ein noch halb gefüllter Trockenfutter-Automaten. Auch nach all den Wochen bringt er es nicht übers Herz, die Sachen von Hannibal zu entsorgen. Der Kangal war ihm im türkischen Hinterland über den Weg gelaufen, als er in einem Dorf nahe der syrischen Grenze die alte aramäische Webekunst erforschte. Mit dem Schiff vom Bosporus bis Venedig, dann per Anhalter über Berge und durch Täler zurück nach Hinterpagig. Nie mehr ist Hannibal von seiner Seite gewichen. Bis zu dem einen Moment. Dem Moment, der Ephraim einsam machte.

Alleine war er in seinem Leben oft. Als Kind gab’s deswegen beinahe täglich Heringsfilet aus der Dose. Als Jugendlicher wandte er sich der Lyrik zu, statt Mädchen zu küssen und über die Stränge zu schlagen. Als Erwachsener kamen die Storen dazu. Seither verbringt er die Tage in der kühlen Werkstatt. Was andere abwertend als Loch bezeichnen, ist für ihn ein Ort der Geborgenheit. Seine Gedanken leisteten ihm Gesellschaft, Menschen konnten das nie. Sie sind kaum mehr als Statisten in einem Film, der in seinem eigenen Kopf spielt.

Aber nun ist Hannibal weg. Das erste Mal spürt er Sehnsucht nach einem anderen Lebewesen. Und er spürt Wut und Zorn auf den Menschen, der ihm seinen hündischen Freund nahm. Bis heute kennt er den Namen des Täters nicht, weiss nicht, wie er aussieht. Die Polizei ist ratlos. Niemand kann ihm helfen. Und das, obwohl mit Hannibal auch ein hochrangiges Mitglied der Bündner PdA sein Leben liess. Der Mann wollte gerade Ephraims Werkstatt betreten und für die Parteizentrale neue Sonnenstoren kaufen, als die Nagelbombe hochging. Eine politisch motivierte Tat, Terror, mutmassen die Medien. Das physische Manifest eines verzweifelten Kapitalisten, der das Enden dieser Wirtschaftsform nicht ertrug, wird spekuliert. Hannibal war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Kollateralschaden. Ein unschuldiges Opfer eines Aktes in einem asymmetrischen Krieg.

Politik interessiert Ephraim nicht, für ihn ist die Tat persönlich. Wie sehr sie sein Herz trübt, ist an seinen Storen abzulesen. Schwarz, purpur, schiefergrau, mitternachtsblau. Diese Farben sind seit Wochen Ausdruck seiner inneren Qualen. Das psychotische Dauerweben führte keineswegs zur Trauerbewältigung. Im Gegenteil, mit jeder Masche festigte sich sein Rachebedürfnis. Heute hat Ephraim einen Entschluss gefasst. Das erste Mal werden die Tore seiner Werkstatt verschlossen bleiben. Morgen geht er los, zu Fuss. Sein Ziel ist unbekannt, die Farbe seiner Mission klar: blutrot.

Kapitel 2

Lieferung aus dem Jenseits

Blutrot oder doch lieber Rhabarberrot? Ephraims Blick wandert von seiner linken Hand zu seiner rechten. In jeder hält er eine Farbbüchse. Angestrengt mustert er die Etiketten, auf denen ein Dalmatiner abgebildet ist, der seinem Frauchen beim Wandstreichen fröhlich über die Schulter schaut. Tränen trüben Ephraims Sicht. Eine öffentliche Zurschaustellung seiner Gefühle in einem Malergeschäft ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Ob es der falsche Entschluss war, seiner Werkstatt einen neuen Anstrich zu verpassen? Tief im Innern weiss er, dass er mit der Aktion seine Erinnerungen an Hannibal keinesfalls gefährdet. Es ist höchste Zeit, endlich nach vorne zu schauen und seine Rachegedanken mit einem Tapetenwechsel ein für alle Mal …

Ehe er seinen Gedanken zu Ende bringen kann, unterbricht ihn Angred Eder, die Frau des Ladenbesitzers. «Kommst du klar?», fragt sie mit einem Lächeln, das wohl verführerisch wirken soll. Wäre er doch bloss zu Peter Krämers Malbude ums Eck gegangen. Dort bekäme er immerhin abgelaufene Gratis-Kaugummis, die Peter jedem Kunden zu Werbezwecken in die Hand drückt. Hier hingegen, im «Lack und Eder», hagelt es meist nur unmoralische Angebote, die Angred abfeuert, als wäre ihr Mund ein Automatikgewehr. Ephraim nickt entgeistert, während er die eine lila Strähne in ihrer sonst blonden Kurzhaarfrisur fixiert. Die Strähne scheint genau so einsam zu sein wie er. Angred verschwindet hinter dem nächsten Regal. Ihren harzig inszenierten Hüftschwung ignoriert Ephraim.

Gerade als er mit zwei Büchsen Rhabarberrot in Richtung Kasse schlendert, scheppert es hinter ihm, als würde der Laden in sich zusammenbrechen. Ruckartig dreht sich Ephraim um. Scheinbar hat jemand versehentlich eines der Regale umgestossen, welches dominoartig weitere Regale in Schieflage versetzt hat. Mehrere Dutzend Büchsen sind heruntergefallen. Ein paar davon sind sogar aufgeplatzt und hüllen den Betonboden in einen flüssigen Regenbogen. Mittendrin: eine kreidebleiche Angred. Ephraim könnte schwören, dass selbst ihrer lila Strähne etwas Farbe entwichen ist. Just in diesem Moment stürmt ein Mann in einem giftgrünen, hochgezogenen Kapuzenpulli aus dem Laden. Die kleine Glocke am Eingang klingelt ihm entrüstet hinterher.

Auf dem Nachhauseweg macht Ephraim noch einen kurzen Zwischenstopp bei der Apotheke. Die Schrunden-Salbe ist alle. Schon die fünfte Tube diesen Monat. Es fühlt sich fast so an, als würde er nur noch Storen weben, um sich die kostspieligen Mittelchen gegen seine Arbeitswehwehchen zu finanzieren. Ein Teufelskreis. Aber wie sein manchmal etwas verwirrter Webmeister früher immer zu sagen pflegte: Ein Künstler, der sich nicht im Kreis dreht, springt irgendwann im Dreieck. Als Ephraim wieder ins Freie tritt, bleibt sein Blick an etwas Grünem hängen. Etwas Giftgrünem. Hinter dem übervollen Müllcontainer auf der gegenüberliegenden Strassenseite scheint sich jemand zu ducken. Nur der Zipfel des Kapuzenpullis steht oben über. Seltsam.

Zehn Minuten später steht Ephraim vor seiner Haustüre. Aus dem Briefschlitz fischt er mit zwei Fingern und etwas Geschick drei Briefumschläge, die Dorfzeitung und einen Flyer von «Bennis Storen Atelier». Kurz mustert er das plakative Layout in «Blick»-Manier. Den Gedanken, dass sein schärfster Storen-Konkurrent hinter dem Attentat auf sein Herz stecken könnte, verscheucht er gleich wieder. Storen-Benni doch nicht. Der stösst schon bei der Flyergestaltung an seine Grenzen. Die Konstruktion einer Nagelbombe dürfte seine Fähigkeiten bei Weitem übersteigen.

Mit einem kräftigen Ruck öffnet er den Milchkasten in der Hoffnung, dort seine Galaxus-Bestellung vorzufinden. Im Kasten steht aber kein Päckchen, sondern ein weisses, stoffiges Etwas, das jemand offenbar eilig hineingestopft hat. Vorsichtig zieht Ephraim am Zipfel, der ihm entgegenschaut, bis er das weiche – und zu seiner Überraschung schwere – Bündel in der Hand hält. Es ist die Heizdecke, die er bestellt hat. Darin eingewickelt eine Cognac-Flasche. Ephraim schluckt leer. Erst jetzt fällt ihm auf, was mit schmierig roter Schrift auf der Decke geschrieben steht: «Wuff». Aber damit nicht genug. Aus der Decke scheint etwas herausgefallen zu sein. Vor seinen Schuhen liegt Hannibals Halsband. Das Halsband, mit dem Ephraim den Kangal vor Wochen hinten im Garten begraben hat.

Kapitel 3

Auf grüner Spur

Einen Moment lang scheint die ganze Welt um ihn herum zu verschwinden, sein Denken verlangsamt sich, sein Herz schlägt wie wild. Dann rennt Ephraim los. Los in Richtung Garten. Neben dem Stamm des alten Apfelbaums, dort wo die kleinen Schneeglöckchen gerade anfangen zu blühen, beginnt er mit blossen Händen zu graben. Er stösst auf den Holzsarg und etwas weiter links auf Leder. Das Halsband, das er damals zusammen mit dem Kadaver vergraben hat, ist noch da. Erleichtert, aber verdutzt schaut er sich das Exemplar aus dem Briefkasten nochmals an. Erst jetzt bei näherem Betrachten fällt ihm auf, dass es gar nie das echte sein konnte. Dem fehlte das dritte Loch für die goldene Schnalle, deshalb sass Hannibals Halsband immer etwas locker.

Jetzt, wo die Spannung abfällt, schafft sich die Wut Raum. Die Wut, die er sich tagelang ausredete und sich stattdessen einredete, dass die Zeit schon alle Wunden heile. Was für ein Schwachsinn. Er hat seine Gefühle, sein Leiden so sehr verdrängt, dass er sogar eine Begegnung mit Angred Eder im Malergeschäft «Lack und Eder» auf sich nahm. Und das alles nur, weil die Gesellschaft den Stoiker idealisiert, weil schon die Kirche lehrt, lieber die andere Wange hinzuhalten, als etwas gegen Ungerechtigkeit zu tun. Das ist kein Zeichen von Grösse, das ist bloss Resignation. Im Kleid der Religion.

In der Werkstatt pfeffert er die frisch gekauften Farbdosen mit Schwung in eine Ecke. Sogar Lyrik vermochte ihn dieses Mal nicht aus dem Loch zu holen, wie soll das denn mit einem albernen Renovationsprojekt gelingen. Mit dieser Werkstatt ist optisch nichts falsch. Ihr fehlt das Herz, das ihr mit dem Mord an Hannibal grausam entrissen wurde. Dieses Herz lässt sich mit keinem Rot auf dem Pantone-Spektrum einfach zurück an die Wand malen. Nein, der Täter muss vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden und er, Ephraim, wird die Beweise dafür liefern. Er ist beinahe froh, dass irgendein Arschloch, das sich einen makaberen Scherz erlauben wollte, seine Emotionen wieder zum Kochen gebracht hat.

Befeuert vom Wunsch nach Gerechtigkeit geht er hinüber zum Spiegel, der über einem kleinen Waschbecken ganz hinten im Raum hängt, um seine Schrundensalbe aufzutragen. Seine Hände wird er noch brauchen. Sein Gesicht könnte auch mal wieder etwas Pflege vertragen, fahl und müde schaut es ihn an. Als er gerade seine Furchen betrachtet, flackert ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Es lässt sich nicht ganz fassen und je mehr er es zu greifen versucht, desto weiter rückt es weg. Dann ist es ganz weg. Ephraim schert sich nicht weiter drum und wäscht sich stattdessen flüchtig sein Gesicht. Er wirft seinen Mantel über, schliesst die Dreifachverriegelung der schweren Metalltüre und steigt in seinen alten Land Rover. Ersteinmal stattet er dem örtlichen Polizeiposten einen Besuch ab. Er geht nicht davon aus, dass Kommissar Magenta und seine Safttruppe in den letzten Wochen irgendwas zustande gebracht haben und mit neuen Erkenntnissen aufwarten. Dafür sind ein Hund und ein Mitglied der Partei der Arbeit nicht wichtig genug. Aber vielleicht hilft ihm eine kurze Zusammenfassung der gesammelten polizeilichen Versäumnisse bei seinen eigenen Ermittlungen.

«Nichts Neues», sagt ein speckiger Beamter gelangweilt, während er ein überbackenes Sandwich fixiert, das angebissen auf einem Stapel Akten liegt. Ephraim ist kurz davor, eine Szene zu veranstalten und die unmögliche Arbeitsweise anzuprangern, kann sich aber beherrschen. In dem hellen, gedrängten Grossraumbüro scheint sich niemand um irgendetwas ausserhalb des eigenen Kubus zu scheren. Ein Mann sitzt mit überschlagenen Beinen da und feilt sich die Nägel, eine Frau kaut mit halboffenem Mund Kaugummi und schielt immerzu auf ein Anglermagazin auf ihrem Schoss. An der Kaffeemaschine entdeckt Ephraim Kommissar Magenta, der früher für eine Verhaftung nach der anderen sorgte. Unterdessen hat er seine Pitbull-Attitüde zwar weitgehend abgelegt, doch ab und an glänzt er noch immer mit seinem Instinkt. Jetzt gerade scheint er eher mit dem schlechten Espresso aus einer Kapselmaschine zu hadern. Weil Magenta abgelenkt ist, schnappt Ephraim unbemerkt ein Antragsformular zur Hausdurchsuchung und ein schwarzes Notizbuch inklusive blauem Kugelschreiber vom Schreibtisch des Kommissars zu entwenden.

Auf dem Weg nach Hause bremst ihn eine rote Ampel an der Kreuzung neben der Primarschule aus. Genervt schaut er zum leeren Spielplatz hinüber, der sich in knapp zwanzig Minuten zur grossen Pause mit einer Horde Kinder füllen wird. Ihm war die Nestschaukel immer am liebsten. Früher war die Sitzfläche aus einer maschigen Seilkonstruktion, unterdessen werden sie aus grünem Kunststoff gefertig. Plötzlich ist das Bild von vorhin wieder da, ganz klar dieses Mal. Der Typ mit dem giftgrünen Kapuzenpulli, den er erst den halben Laden von Angred verwüsten sah und dann unbewusst hinter einer Mülltonne entdeckte. Sofort setzt er zum U-Turn an. Er muss nochmal zurück zu «Lack und Eder» und sich dieses Mal auf die unmoralischen Angebote von Angred einlassen.

Kapitel 4

Sündhafte Absichten

Es ist kurz vor Ladenschluss und im «Lack und Eder» erinnert nichts mehr an den chaotischen Vorfall von heute Morgen. In den Regalen, die mittlerweile wieder senkrecht stehen, reiht sich wie gewohnt Malerfarbe an Malerfarbe. Auch der Boden strahlt. Fast so sehr wie Angred, als sie Ephraim hereinkommen sieht. Er atmet tief ein und widersteht dem Drang, auf der Stelle kehrtzumachen. Er braucht Antworten. Für Hannibal. «Na soll's noch eine weitere Dose Rhabarberrot sein?», fragt Angred und klimpert mit ihren verklumpten Wimpern. «Ich bin wegen einer ernsten Angelegenheit hier. Dürfte ich dir ein paar Fragen stellen?» Angred scheint verwirrt, fängt sich aber wieder mit einem Lächeln. «Ich könnte den Laden früher schliessen. Mein Mann Diethard ist ohnehin nicht da. Bei einem Gläschen prickelndem Sekt oben in der gemütlichen Stube redet es sich doch gleich besser, oder?» Ohne Ephraims Antwort abzuwarten, dreht Angred das «Geöffnet»-Schild an der Ladentüre um und lässt den Schlüssel im Schloss mehrfach um die eigene Achse tanzen.

«Für mich bitte ein Wasser», ruft Ephraim Angred zu, die in der Küche bereits eine Sekt-Flöte bis zum Anschlag gefüllt hat und gerade bei der zweiten ansetzen will. An allen vier Wänden hängen bemalte Keramikteller unterschiedlicher Herkunft. Mindestens 70 Stück. Alles Souvenirs. Angred scheint ein Faible fürs Sammeln zu haben. Im Setzkasten über dem lodernden Kaminfeuer hängt ein Arsenal an Fingerhüten.

Zurück auf dem Sofa rückt die Frau mit der lila Strähne so nahe an Ephraim heran, dass ihm der Geruch ihres Billig-Parfüms die Nasenschleimhäute verätzt. «Du weisst doch, was bei mir in der Werkstatt passiert ist?», fängt Ephraim zögerlich an und versucht dabei mit seitlich abgedrehtem Gesicht genügend parfümfreien Sauerstoff einzuatmen, um die nächsten paar Sätze herauswürgen zu können. «Schreckliche Sache», erwidert Angred. Ephraim senkt seinen Kopf und fährt in gedämpfter Stimme fort: «Was weisst du über diesen Typen im giftgrünen Kapuzenpulli, der heute den Laden aufgemischt hat? Ich habe das Gefühl, er könnte etwas über die Sache mit Hannibal wissen.» Ephraim bleibt vage. Schliesslich will er ihr nicht zu viel von seiner Mission verraten. Bei ihrem losen Mundwerk dürfte es maximal eine Stunde dauern, ehe das gesamte Dorf Bescheid wüsste.

Angred leert das Sektglas in einem Zug und stellt es auf den Couchtisch neben eine flackernde Kerze. «Das ist Eddie. Ein Junge aus dem Nachbardorf. Aber ich kann dich beruhigen, Eddie hat bestimmt nichts damit am Hut. Er hat nicht mehr alle Malerdosen im Regal, wenn du verstehst, was ich meine.» Angred zwinkert ihm kichernd zu und scheint auch noch stolz auf die Anspielung zu sein. «Der Junge schaut einmal wöchentlich bei uns vorbei. Stundenlang studiert er die Farbkataloge. Buntes fasziniert ihn. Und wenn er mal nicht Farben anstarrt, durchstöbert er Mülltonnen. Der Polizei ist er bereits bekannt.» Enttäuschung macht sich in Ephraim breit, was Angred nicht entgeht. «Du siehst aus, als könntest du eine Aufmunterung vertragen», raunt ihm Angred ins Ohr. Ephraim steht wie von der Tarantel gestochen auf. «Dürfte ich kurz auf die Toilette?» – «Natürlich, mach dich ruhig frisch mein Grosser. Den Gang runter.»

Ephraims Herz pocht. Nein zu sagen, war noch nie seine Stärke. Generell ist er kein Mann der grossen Worte. Während er sich überlegt, wie er aus dem Schlamassel wieder herauskommt, findet er sich in einem engen, muffigen Büro wieder. Definitiv kein WC hier drin. Ordner und Papierstapel säumen den kleinen Holzpult in der Ecke. Diethard und Angred scheinen von Ordnung nicht besonders viel zu halten. Als Ephraim sich umdreht, um das Zimmer wieder zu verlassen, bleibt sein Blick an einem Zettel an der Magnettafel neben der Türe hängen. Er ist mit einem bunten Magneten aus dem Kinderspiel Klack! auf Ephraims Augenhöhe befestigt. Er hasst dieses hektische Spiel. Seine Nichten zwingen ihn jedes Mal, es mit ihnen zu spielen, wenn er auf Besuch ist. Auf dem Zettel steht mit grüner Tinte und in krakeliger Schrift «Joachim Schüberle» geschrieben, gefolgt von einer Telefonnummer. Ist das nicht der Journalist, der in der örtlichen Lokalzeitung «Kaff Aktuell» bereits mehrfach über das Attentat auf seine Werkstatt berichtet hat?

Der Zettel erinnert Ephraim daran, dass sich in seiner Hosentasche ein weiterer befindet. Der Antrag zur Hausdruchsuchung, den er bei der Polizei gemopst hat. Vor lauter Aufregung hat er noch keinen Blick darauf geworfen. Vorsichtig faltet er den Zettel auseinander.

... das Betreten und die Durchsuchung des Hausgrundstücks an der Frevelstrasse 99 nebst dazugehörender Ladenfläche und angemieteter Garage.

Er kennt die Adresse. Es ist das Haus der Eders.

«Na, hast du dich verlaufen mein Grosser?»

Kapitel 5

Vergeltung der Kapitalisten

Bevor sich Ephraim umdreht und antwortet, lässt er den Durchsuchungsbefehl mit einer unauffälligen Handbewegung in seine Jackentasche gleiten. «Ja, ich bin wohl falsch abgebogen, entschuldige. Aber gemütlich habt ihr es hier.» Angred Eder verdreht die Augen und lacht laut über diese offensichtliche Lüge. Sie scheint aber wenigstens nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. «Joachim Schüberle ist Journalist bei der Zeitung ‘Kaff aktuell’. Der hat so oft hier angerufen, weil wir ja unseren Malerladen vor Kurzem umgebaut und Neueröffnung gefeiert haben. Erst nach dem Nagelbombenanschlag bei dir hat er das Interesse an uns verloren. Wer kann’s ihm verübeln, wenn endlich einmal was passiert hier», sagt sie und zieht die Augenbrauen etwas nach oben, was wahrscheinlich ihren Versuch darstellt, lasziv zu wirken. Seinen Blick auf die Magnettafel hat sie also mitbekommen, das ist aber nicht weiter schlimm. «Achso ja, ich dachte doch, dass mir der Name bekannt vorkommt», sagt Ephraim und ringt sich ein vorsichtiges Lächeln ab.

Zurück zu Hause in der Werkstatt kreisen seine Gedanken. Der Duft seines neuen Fussdeos, das er seit einigen Tagen gegen seine «Hyperhidrosis pedis» benutzt, vermag ihn nur eine Sekunde abzulenken. Nachdem er noch kurz bei Angred aufs Klo ging, hat er sich schnell verabschiedet. Er müsse morgen früh raus, das war die beste Ausrede, die ihm gerade einfiel. Seit er den Durchsungsbefehl gesehen hat, wird er das Gefühl nicht los, dass die Eders etwas mit dem Tod von Hannibal zu tun haben. Aber warum sollten sie das tun? Angred und Diethard sind zwar ein komisches Paar und wahnsinnig anstrengend, aber solch eine Gräueltat traut er den beiden beim besten Willen nicht zu. Er nimmt den Zettel nochmals aus der Jacke, vielleicht hat er sich ja bei der Adresse geirrt. Doch da steht es schwarz auf weiss: Frevelstrasse 99. Hier soll eine Hausdurchsuchung stattfinden.

In der Ecke sieht er die zwei Farbdosen, die er heute morgen lieblos dorthin geworfen hat. Die eine ist ausgelaufen und bildet am Boden ein verzerrtes rotes Rechteck, fast so wie eine Flagge im Wind. Ephraim zuckt zusammen, seine eigenen Gedanken erschaudern ihn, doch es ergibt plötzlich alles Sinn. Er hat das grosse Ganze nicht beachtet, sondern sich nur auf Hannibal fixiert. Der Siegeszug der Partei der Arbeit und die einhergehende Erstarkung des Sozialismus ist dem Kanton Graubünden seit jeher ein Dorn im Auge. In den Verwaltungen und Behörden, vor allem auch der Polizei sitzen lauter frustrierte Kapitalisten, die die neue Ordnung nicht akzeptieren wollen. Kommissar Magenta ist da ganz vorne mit dabei. Was also, wenn das Attentat behördlich angeordnet war? Ein Versuch, die Partei der Arbeit zu schwächen? Ihm fällt ein, dass am Tag des Anschlags eigentlich drei weitere Parteimitglieder in seiner Werkstatt zur Abholung der Sonnenstoren angemeldet waren, sich diese aber kurzfristig entschuldigen liessen.

Aber warum sollte die Polizei das Haus der Eders durchsuchen? Die Eheleute sind als Ladenbesitzer natürlich auf Konsum angewiesen und daher flammende Kapitalisten, die würden doch nicht von der Kantonspolizei verdächtigt werden. Es sei denn, er wurde bewusst auf eine falsche Spur gelockt. Angred und Diethard sind zwar keine Mörder, aber für die Anliegen der Kapitalisten lassen sie sich nur zu gerne einspannen. Bei jeder Podiumsdiskussion, bei jeder Wahlveranstaltung sind sie dabei, um die KMU von ihrer politischen Idee zu überzeugen. Mithilfe der Eders wollten ihn die Bullen glauben lassen, dass sie in alle Richtungen ermitteln, auch hinein in die eigenen Reihen. Nun fällt ihm auch auf, dass der Durchsuchungsbefehl doch sehr offensichtlich herumlag, sogar für so einen Schlendrian wie Magenta nicht normal. Die Indizien sprechen für seine Theorie, er ist sich nun fast sicher, dass der Nagelbombenangriff ein Komplott war, abgesegnet von den höchsten Stellen des Kantons. Doch er braucht mehr Beweise.

Vielleicht muss er doch zu Eddie. Nicht mehr, weil er Ephraim tatverdächtig erscheint, sondern weil er etwas gesehen und gehört haben könnte. Falls Angred und Diethard tatsächlich in die ganze Angelegenheit eingeweiht waren, dann haben sie sicher auch im Laden darüber gesprochen, als sie sich ungestört fühlten. So wie sie auch beim ehelichen Streit kein Blatt vor den Mund nehmen. Abfällig, wie sich Angred vorhin über Eddie äusserte, liegt es nahe, dass sie und Diethard ihn zwischen den Regalen einfach vergessen haben. Und erst, als Eddie aus Schreck über das Gehörte die ganzen Dosen umgestossen hat, bemerkten sie ihn...

Kapitel 6

Teuflisches Bündnis

Eddie stottert. Es sind nur Satzfragmente und einzelne Wörter, die über seine Lippen kommen. Dennoch reichen diese, um Ephraim jegliche Farbe aus dem Gesicht zu jagen. «M-m-müssen a-a-aufpassen», «B-b-briefk-k-kasten», «Decke», «gross-ss-sse Explosion», «Sch-sch-schüberle». Eddie hat also tatsächlich einem Gespräch der Eders gelauscht. Von der Decke mit der scheusslichen Botschaft in seinem Briefkasten konnten sie gar nichts wissen, schliesslich hat er dieses Detail für sich behalten. Es sei denn, die Eders steckten selbst dahinter. Ephraim blickt auf den verängstigten Eddie, der nervös auf einem Kabelbinder herumkaut. Ephraim bedankt sich und überlässt Eddie wieder den Mülltonnen, zwischen denen er den verpeilten Jungen aufgespürt hat.

Zu Hause versucht Ephraim die Puzzleteile zusammenzusetzen. Da wäre der entwendete Antrag auf Hausdurchsuchung, der die Eders ins Visier nimmt. Dann die Satzfragmente aus einem Gespräch zwischen Angred und Diethard Eder, das Eddie heimlich belauscht hat und in dem auch der örtliche Journalist Joachim Schüberle erwähnt wurde. Hinzu kommt Ephraims Vermutung, dass die Kapitalisten – zu denen Angred und Diethard gehören – es auf die PdA abgesehen haben. Denn am Tag, an dem die Nagelbombe hochging, waren vier Mitglieder der PdA in seiner Werkstatt angemeldet. Drei davon meldeten sich wieder ab. Beim Vierten handelte es sich um Xavier Ambühl, den kantonalen Parteipräsidenten. Er fiel dem Attentat zum Opfer. Entweder hätten mehrere Parteimitglieder umkommen sollen und der Zufall bewahrte die anderen vor ihrem Schicksal oder aber Ambühl war von Anfang an das einzige Ziel. So oder so. Ephraim muss tiefer graben und er weiss auch schon, wo er damit anfängt.

Gerade als Ephraim den Empfangsbereich der «Kaff Aktuell»-Redaktion betritt, fällt sein Blick auf einen Mann, der mit dem Rücken zu ihm steht und sich am Automaten einen Kaffee heraus lässt. Der Mann dreht sich um, grüsst zum Abschied die rothaarige Empfangsdame mit einer zuprostenden Geste und bleibt abrupt stehen, als er Ephraim sieht. Es ist Diethard Eder. «Na so was. Was machst du denn hier?», fragt Diethard sichtlich entgeistert. «Ich möchte eine Kleinanzeige für die Werkstatt aufgeben», lügt Ephraim und versucht, ruhig zu bleiben. «Verstehe. Na dann, man sieht sich.» Diethard zieht mit gesenktem Blick und in einem zackigen Schritttempo an Ephraim vorbei.

Dass Diethard Kontakt zum Journalisten Joachim Schüberle hat, weiss Ephraim bereits. Laut Angred lediglich, weil die Zeitung über die Neueröffnung des «Lack und Eder» berichtet hat. Die liegt nun aber schon Wochen zurück. Was also wollte Diethard hier? Die Empfangsdame könnte ihm hier weiterhelfen. Jetzt heisst es wieder über den eigenen Schatten springen, wie neulich bei Angred. «Gibt es wieder einen Artikel über die Malerbude der Eders?», fragt Ephraim unschuldig und zeigt mit dem Daumen hinter sich auf die Türe, hinter der Diethard soeben verschwunden ist. Auf dem Namensschild vor der Empfangsdame steht «Jennifer Bieri». Jennifer kichert und winkt ab. «Nein, die Neueröffnung ist doch Schnee von gestern.» Dann flüstert sie: «Ich darf das gar nicht sagen, aber Diethard ist seit ein paar Monaten stiller Teilhaber des ‘Kaff Aktuell’. Ich hoffe ja wirklich, dass er unser Käseblatt aus der Misere retten kann.» Sie beisst sich schuldbewusst auf die Unterlippe und hält sich anschliessend mit einem gedämpften «Schhhhht» den Zeigefinger vor die Lippen. «Zu wem müssen Sie?», wechselt sie abrupt das Thema, als jemand den Empfangsbereich betritt.

Schüberles Büro wirkt altmodisch und riecht auch so. Der dunkelgrüne Teppichboden hat eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Ganz zu schweigen vom Pult, dessen Lack sich an den meisten Stellen auf und davon gemacht hat. Etwas, das Ephraim jetzt auch gerne tun würde. Aber stattdessen nimmt er auf dem Stuhl gegenüber von Joachim Schüberles Pult platz, während dieser sich noch einen Kaffee rauslässt. Nervosität macht sich in Ephraims Körper breit. Erst jetzt merkt er, dass er sich noch gar nicht richtig überlegt hat, welche Fragen er dem Journalisten stellen möchte. Seine Hände beginnen zu zittern und der Autoschlüssel, den er soeben noch fest umklammert hielt, fällt ihm aus der Hand. Als Ephraim sich bückt, um den Schlüssel aufzuheben, fällt sein Blick auf eine Kartonschachtel unter dem Pult, die bis oben hin mit politischen Flyern gefüllt ist. Damit hat Ephraim nicht gerechnet: Joachim Schüberle will kantonaler Parteipräsident der PdA werden.

Ephraims Gedanken überschlagen sich: Da nun der amtierende Präsident Xavier Ambühl tot ist und sich nicht erneut zur Wahl aufstellen lassen kann, dürfte Schüberle die Wahl sicher sein. Aber irgendetwas passt hier nicht ins Bild. Wieso sollte Diethard Joachims Zeitung unterstützen, wenn die beiden doch in ihren Glaubenssätzen nicht verschiedener sein könnten? Denn vor ziemlich genau drei Jahren gab Joachim Schüberle in seiner Zeitung bekannt, dass er der PdA beitritt und das, obwohl er bis dahin voller Inbrunst für die Gegenseite gekämpft hatte. Der plötzliche Sinneswandel schlug im Dorf hohe Wellen und ist bis heute für viele nicht nachvollziehbar.

Aber was, wenn Joachim Schüberle, der Journalist und Inhaber des «Kaff Aktuell», nie wirklich die Seiten gewechselt hat und mit seinem Parteibeitritt die PdA nicht unterstützt, sondern sie lediglich infiltriert, um sie von innen her zu seinen Gunsten zu schwächen? Diethard Eder könnte das Ganze indirekt als stiller Teilhaber mitfinanzieren. Ein Attentat auf den langjährigen Präsidenten würde Joachim somit den Weg an die Spitze sichern und gleichzeitig seine Auflage steigern. Das wären dann zwei Fliegen mit einer Klappe.

Wenn es wirklich so ist, stellt sich dennoch die Frage: Wer hat die Bombe gebaut und inwiefern ist Kommissar Magenta in die Sache verwickelt? Denn ein Malermeister und Journalist ergeben zusammen noch längst keinen Terroristen…

«Also, was kann ich für Sie tun Ephraim?», fragt Schüberle.

Kapitel 7

Der Wahn der Vergeltung

Gute Frage. Was will Ephraim denn nun von dem Journalisten nach all den neuen Erkenntnissen. Er muss seine Frage mit Bedacht wählen. Schüberle soll keinen Verdacht schöpfen, trotzdem muss er mehr über die Verstrickung zwischen ihm, Diethard Eder und Kommissar Magenta herausfinden. «Sie wollen also Bündner PdA-Präsident werden?», sagt Ephraim mit möglichst gleichgültiger Stimme und deutet mit dem Kopf auf den Karton mit Flyern unter Schüberles Pult. «Ja, da Xavier, Gott hab ihn selig, nicht mehr antreten kann und sich kein anderer geeigneter Kandidat finden liess, habe ich mich bereit erklärt. Das wird aber erst morgen verkündet, also bitte ich Sie um Stillschweigen.» Der Journalist wirkt völlig gelassen, keine Spur von Nervosität. Ob sich Ephraim doch getäuscht hat und getrieben von seiner Wut überall böse Geister und Muster sieht? Vielleicht, aber einen Versuch muss er noch wagen.

«Was ich Sie eigentlich fragen wollte. Sie haben ja die Neueröffnung des Malerladens ‘Lack und Eder’ mit einigen Artikeln in Ihrer Zeitung begleitet. Ist Ihnen da ein Junge im Kapuzenpulli zwischen den Regalen aufgefallen?» Joachim Schüberle schaut mit stutzigem Blick hinter seiner übergrossen Kaffeetasse hervor. Die Frage war nicht klug formuliert. Alles an ihr klingt nach Verhör, das merkt Ephraim sofort und entscheidet sich für die Flucht nach vorne. «Mein Hund ist ja bei dem Anschlag auf Xavier Ambühl umgekommen und erst vor ein paar Tagen fand ich eine Drohbotschaft im Briefkasten. Etwa gleichzeitig ist mir dieser Junge aufgefallen. Die Polizei hat mir leider bisher nicht weiterhelfen können.» Schüberles Gesicht erhellt sich. Er stellt seine Tasse auf den Tisch und setzt sich hin. «Ja, den Jungen habe ich gesehen. Der stand ständig zwischen den Regalen und hat sich Farbeimer angeschaut. Unter uns. Die Eders stehen mir weder politisch noch persönlich nahe, vor allem Angred kann mit ihrer Art sehr anstrengend sein, aber um den Jungen haben sie sich rührend gekümmert. Dauernd haben sie sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt und ihm Farbbüchsen geschenkt.» Diese Aussage überrascht Ephraim. Bisher hat Angred so getan, als ob sie Eddie sich selbst überlassen habe. Aber anscheinend ist er dem Ehepaar doch ziemlich nah, wenn er dem Journalisten glauben will. Etwas ist faul im Staate Dänemark…

Ephraim bedankt sich höflich bei Schüberle, verspricht bald einmal wieder eine Anzeige für seinen Sonnenstorenladen zu schalten und verlässt das Büro. Auf dem Weg aus der Redaktion lächelt er noch kurz der Rezeptionistin Jennifer Bieri zu, die gerade mit einer Milchpumpe zu kämpfen scheint. Er fährt nach Hause in seine Werkstatt, er muss das Gehörte irgendwie in Einklang bringen. Wie ihm Wahn notiert er alles auf einem kleinen karierten Notizblock:

Joachim Schüberle: Journalist, Diethard Eder stiller Teilhaber von «Kaff Aktuell», PdA oder Kapitalist?

Angred und Diethard Eder: Kapitalisten, Malerladen, Stammkunde Eddie

Eddie: Psychische Probleme, Farben sind grosse Leidenschaft, Schüberle angeschwärzt

Kommissar Magenta: Polizist, Alt-Kapitalist, Durchsuchungsbefehl für Eders

Minutenlang starrt Ephraim die Worte an, als würde sich aus ihnen auf einmal eine Botschaft formen. Bevor er verrückt wird, steht er auf, geht zum Kühlschrank und holt sich ein alkoholfreies Bier. Ihm fällt ein, dass er Schüberle vor ein paar Jahren einmal bei einem Treffen der «Anonymen Alkoholikern» getroffen hat. Etwa zu der Zeit, als er seine Mitgliedschaft bei der «Partei der Arbeit» verkündete. Was, wenn sein Sinneswandel echt ist? Wenn er damals einen Neubeginn gewagt hat? Wie dem auch sei, Diethard scheint ein ziemlich lauter stiller Teilhaber zu sein. Das lässt sich an der veränderten Berichterstattung der letzten Monate ablesen, bemerkt Ephraim jetzt, wo er sich das alles recht überlegt. Die ist doch etwas wirtschaftsliberaler ausgefallen, als gewohnt.

Er stellt das Bier zur Seite und betrachtet erneut seinen Notizblock. Die Eders, Magenta und Eddie. Kapitalismus und Farben. Jede Spur, jeder neue Fakt, jede Person führt zurück zu den Eders. Nur mit einer Gesellschaft, die auf Konsum getrimmt ist, wird ihre Gier nach immer mehr Geld gestillt. Letztes Jahr wollten sie sogar expandieren und einen Laden in Chur eröffnen, doch die sozialistische Kantonspolitik mit ihren Auflagen hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch Magenta wünscht sich das alte kapitalistische System zurück. Schwindende Armut und wachsende Solidarität lassen die Kriminalitätsrate ins Bodenlose fallen und machen seinen Job unattraktiv. Eddie hingegen liebt die Farbbüchsen im Laden der Eders. Es wäre ein Leichtes, die beiden Männer als Verbündete zu gewinnen. Schüberle dagegen wurde vielleicht einfach die Liebe zu seiner Lokalzeitung zum Verhängnis. Um sie zu retten, liess er sich finanziell vom politischen Feind unterstützen.

Er denkt alles noch dreimal durch, ordnet jedes Detail ein, geht sicher, nichts übersehen zu haben. Er ist sich seiner Theorie sicher. Er ist bereit, sie zu verfolgen, öffentlich zu machen, endlich Vergeltung für Hannibal zu üben. Doch auch er braucht Verbündete. «Kaff aktuell» wird die Beiträge über Hasenzüchter und Hobbybastler erst einmal verschieben müssen.

Kapitel 8

Verhängnisvolle Liebschaft

Ephraim braucht frische Luft. In seinen trostlosen vier Wänden scheint es ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Und auf einen klaren Gedanken ist er jetzt angewiesen. Schüberle und sein Käseblatt «Kaff Aktuell» könnten ihm dabei helfen, mit der örtlichen medialen Reichweite die Täter zu fassen. Er weiss nur noch nicht genau wie. Ephraim bleibt stehen und sieht sich zwischen den Büschen um, die den Kiesweg säumen. Seine Beine haben ihn in den Dorfpark getragen, wo er früher so oft mit Hannibal spazieren ging. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Eine panische männliche Stimme schneidet die Stille im Park. Eine weibliche Weinerliche gesellt sich dazu. Beide kommen Ephraim bekannt vor. Behutsam schleicht er ein paar Schritte weiter, um mehr als nur die Schatten zu sehen, die sich in der Abenddämmerung auf der Wiese abzeichnen. Das verräterisch knirschende Kies unter seinen Füssen verflucht er dabei innerlich. Im Schutz einer Eiche erspäht er die beiden. Oder besser gesagt die drei: Joachim Schüberle, wild gestikulierend und seine tränenüberströmte Empfangsdame Jennifer Bieri, die sich mit der einen Hand tröstend ein Nastuch unter ihre Nase hält und mit der anderen einen Kinderwagen wiegt. Ephraim belauscht die beiden, bis Schüberle die heftig schluchzende Jennifer einfach stehen lässt und in die Dunkelheit entschwindet. «Es ist doch auch dein Kind!», ruft sie ihm verzweifelt nach. Wer hätte das gedacht. Der Vorzeigejournalist und Vater einer vierköpfigen Familie hat eine Affäre. Besser gesagt hatte. Von der Zuneigung zu seiner Empfangsdame scheint nämlich ausser dem Kind im Kinderwagen nicht mehr viel übrig zu sein. Und um das will er sich nicht kümmern.

Am nächsten Tag, genau um neun Uhr früh, betritt Ephraim erneut die Redaktion des «Kaff Aktuell». Der Stuhl am Empfang steht leer. Im muffigen Büro trifft Ephraim auf einen sichtlich unausgeschlafenen Schüberle. Dunkle Augenringe säumen seinen Blick, während seine Lider auf halbmast stehen. Ephraim setzt sich unaufgefordert auf den Stuhl, auf dem er bereits einen Tag zuvor sass. «Sie müssen mir einen Gefallen tun», sagt Ephraim bestimmt und schildert Schüberle, was er am Abend zuvor im Park beobachtet hat. Joachim Schüberles Gesicht wirkt noch fahler als zuvor. Geheimes Wissen ist und bleibt das beste Druckmittel, denkt sich Ephraim.

«Ephraim, ich möchte Ihnen wirklich helfen. Es gibt da aber ein Problem. Sie sind nicht der Einzige, der mich erpresst. Diethard Eder, mein ehemaliger Schulfreund, weiss ebenfalls von meinem Seitensprung und dem Kind und hat damit gedroht, es meiner Frau zu erzählen. Seither macht er mir das Leben zur Hölle. Er hat sich nicht nur gegen meinen Willen in die Zeitung eingekauft, sondern mich auch zur kantonalen PdA-Präsidentschaftskandidatur gezwungen, damit ich seine Expansionspläne in Chur unterstütze. Er hat meinen Sinneswandel schamlos ausgenutzt. Nicht zuletzt, weil er mich dafür verachtet. Er glaubt, ich hätte ihn als Freund verraten», erklärt Schüberle kopfschüttelnd. «Ist er verantwortlich für die Nagelbombe?», stellt Ephraim Schüberle die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brennt. «Ich weiss es nicht. Aber ich vermute es. Er meinte nur, ich solle seinen Anweisungen folgen, was die Kandidatur anbelangt. Um den Rest kümmert er sich dann. Ich habe ihn nie gefragt, was dieser Rest sein soll. Aus Angst.» Schüberle ist also mit aufrichtigen Absichten der Partei beigetreten, wird nun aber von Diethard instrumentalisiert. «Sie müssen für mich herausfinden, inwiefern Diethard in die Sache verwickelt ist. Schliesslich vertraut Diethard Ihnen – im Glauben, etwas gegen Sie in der Hand zu haben.» Einen zweiten Gefallen wird Ephraim später einfordern müssen.

Wieder zu Hause lässt Ephraim sein Smartphone nicht aus den Augen. Nicht einmal, während er den abgefallenen Filzgleiter an seinem Stuhl durch einen neuen ersetzt. Ein wackelnder Stuhl ist das Letzte, was seine Nerven jetzt brauchen können. Es klingelt. Am anderen Ende meldet sich ein atemloser Schüberle. «Diethard hat die Bombe in Auftrag gegeben. Bei wem wollte er mir nicht verraten. Was die Warnung in deinem Briefkasten anbelangt: Die hat Eddie dort platziert. Im Gegenzug hat er von Angred eine Büchse Frühlingsgrün geschenkt bekommen. Der arme Junge. Wusste nicht, was er da tut. Die Botschaft sollte davon ablenken, dass die Tat, wie von der Polizei angenommen, tatsächlich politisch motiviert war. Es sollte so aussehen, als ob das Attentat nur dir galt, um Kommissar Magenta auf die falsche Spur zu locken.» Erst jetzt holt Schüberle tief Luft. Einen Moment lang ist es still in der Leitung. «Hallo? Ephraim? Sind Sie noch dran?» Ephraim räuspert sich. «Ich bin noch da», antwortet er mit eisiger Stimme und legt auf. Kommissar Magenta hat also nichts mit dem Attentat zu tun. Dabei hätte Ephraim schwören können, dass dieser faule Sack knietief mit drin steckt.

Das Namensschild an der Haustüre von Kommissar R. Magenta ist kaum lesbar. Ephraims Finger verkrampft sich auf der Klingel. Er hört, wie jemand gemütlich zur Tür schlendert und durch den Spion späht. Die Türe öffnet sich einen Spalt. «Was willst du denn hier?», fragt Magenta sichtlich überrascht. Einen Augenblick später rutscht Ephraim auf dem abgewetzten Ledersofa nervös hin und her. Eine Wiederholung des «Tatort» flackert über den Fernseher und taucht Magentas schummriges Wohnzimmer in ein kühles Licht. Auf dem Couchtisch stehen fünf leere Bierdosen und ein Aschenbecher, den man bereits vorgestern hätte leeren sollen. Ephraim hält von dem Mann in der löchrigen Jogginghose nicht viel, reisst sich aber zusammen, um einen anständigen Ton anzuschlagen: «Ich weiss, dass Sie das Haus der Eders durchsuchen wollen. Ich muss wissen, weshalb.», lässt Ephraim die Bombe platzen. «Du Mistkerl, wusste ich's doch, dass ich den Antrag nicht verlegt habe. Du hast ihn einfach mitgenommen? Dafür könnte ich dich dran kriegen», bricht es aus Magenta heraus. «Das stimmt. Nur würden Sie mit Ihrem fahrlässigen Ermittlungsstil auch in den Fokus Ihrer Vorgesetzten geraten!» Der sichtlich angeheiterte Magenta knurrt geschlagen vor sich hin und beginnt melodisch zu lallen. «Gleich nach dem Attentat haben wir einen Zeugenaufruf gestartet. Eine Frau hat sich gemeldet. Sie habe gesehen, wie Diethard Eder ein paar Tage zuvor eine Kiste Nägel aus dem Laden in seinen Van getragen hat.»

Magenta öffnet ein neues Bier, ohne Ephraim eins anzubieten. Es war ohnehin das Letzte aus dem Sixpack. «Weisst du», fährt Magenta fort, «ich war früher wirklich gut in meinem Job. Inzwischen hat mich mein Instinkt verlassen. Genau wie meine Frau. Aber das ist eine andere Geschichte. Deshalb habe ich keinen neuen Antrag mehr gestellt. Die Fährte wäre bei meinem Glück ohnehin falsch gewesen», jammert Magenta und krönt seinen Monolog mit einem langgezogenen, tiefen Rülpser. «Was, wenn ich Ihnen sage, dass Sie ihr Instinkt in diesem einen Fall nicht trügt?», fragt Ephraim und ignoriert Magentas Unhöflichkeit.

Diethards Nasenlöcher sind gebläht und sein Kopf rhabarberrot, als er Schüberle die neueste Ausgabe des «Kaff Aktuell» auf das Pult knallt. «Was soll die Scheisse?», schnaubt Diethard, sichtlich bemüht, nicht zu brüllen. «Du druckst einen anonymen Leserbrief ab, der unser Geschäft und unser Expansionsvorhaben aufs übelste niedermacht? Ich habe Geld in dieses Blatt investiert. Geschweige denn dein dreckiges Geheimnis für mich behalten und dir den Weg frei gemacht für eine Parteipräsidentschaft. Weisst du, dass ich für das, was ich getan habe, ins Gefängnis kommen könnte? Und so dankst du es mir? Ich habe Nägel mit Köpfen gemacht. Echte Nägel! Mit echten Köpfen! Der Ambühl und dieser Kollateralschaden von Köter.»

«Diethard Eder, Sie sind hiermit verhaftet», durchdringt Magentas Stimme Schüberles Büro. Diethard Eder dreht sich um, seine Augen sind vor Schreck geweitet. Ephraims Plan, Diethard mit einem gefälschten Leserbrief aus der Reserve zu locken, ging auf. Kommissar Magenta, der den ganzen Morgen damit verbracht hat, Schüberle und sein Büro zu verkabeln, hat die ganze Szene aus der Besenkammer nebenan mitverfolgt. In Handschellen führt er Diethard Eder aus dem Gebäude hinaus auf den Parkplatz, wo Ephraim bereits wartet. Ihm huscht ein Lächeln über die Lippen. Das Erste seit Hannibals Tod. Jetzt können die Mühlen der Justiz mahlen. Wenn auch wie gewohnt ganz, gaaaanz langsam.

Carolin: Kapitel 1, 3, 5, & 7, Natalie: Kapitel 2, 4, 6 & 8

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Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich. 

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