
Hintergrund
Schaurig, aber niedlich: die Welt des süßen Horrors in Games
von Kim Muntinga

Über 20 Jahre habe ich auf den Nachfolger von «Vampire: The Masquerade – Bloodlines» gewartet. Dieser bietet praktisch nichts von dem, was das legendäre Rollenspiel damals ausgezeichnet hat. Gepackt hat mich «Bloodlines 2» trotzdem.
Dabei stolpern sie über eine Mordserie, die über hundert Jahre zurückreicht. Fabian ermittelte schon damals, die Spur verlor sich allerdings. Nebenbei hat sich mit Ryong Choi ein neuer Prinz oder besser gesagt eine Prinzessin an die Spitze der streitsüchtigen Vampir-Klans gesetzt. Ihre Macht ist alles andere als gesichert und mehrere Parteien streiten um Einfluss über Seattle.
Auch der Rest des nächtlichen Seattles ist dramatisch in Szene gesetzt. An jeder Ecke reflektiert das Licht neonfarbener Leuchttafeln im Schnee. Selbst in dunklen Seitengassen kannst du dich darauf verlassen, dass das Rücklicht eines stehendes Fahrzeugs die Szene beleuchtet.
Auch das Kampfsystem fühlt sich grösstenteils toll an. Phyre setzt fast ausschliesslich auf Nahkampf. Schwächere Gegner kann ich mit einem starken Schlag durch die Luft schleudern. Ausweichen geht blitzschnell. Jede der sechs Fraktionen hat zusätzlich vier freischaltbare aktive Fähigkeiten. Publisher Paradox wollte ursprünglich die Lasombra und Toreador hinter einen 22-Dollar-DLC verstecken. Nach grossem Aufschrei ruderte man schliesslich zurück.
Ich habe mich für die Ventrue entschieden. Damit kann ich Gegner zum Selbstmord zwingen oder sie fernsteuern. Letzteres ist besonders bei grossen Gegnern praktisch, damit sie für mich die Drecksarbeit erledigen. Über Umwege kann ich Fähigkeiten anderer Fraktionen erlernen. Das kostet allerdings deutlich mehr Skillpunkte. Mit den Fähigkeiten machen Kämpfe, die überraschend dosiert stattfinden, ziemlich Laune.
Sonstige Rollenspiel-Elemente bietet «Bloodlines 2» nicht. Bereits bei meinem Anspieltermin an der Gamescom betonten die Entwickler von The Chinese Room, respektive Publisher Paradox, dass es sich auch um ein Action-Rollenspiel handelt. Ich würde sogar so weit gehen und es als Action-Adventure bezeichnen – eine Genre-Bezeichnung, die heute kaum noch gebraucht wird. Auf «Bloodlines 2» trifft es aber gut zu, denn die Action steht nicht im Zentrum.
Einen Grossteil des Spiels bin ich als Fabian unterwegs. In regelmässigen Flashbacks nehme ich als der gesprächige Malkavian-Vampir Mordermittlungen auf. Und das gleich zweimal. Einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einmal kurz vor Phyres Ankunft.
Fabians Ermittlungen bestehen ausschliesslich darin, in Seattle von A nach B zu watscheln, Tatverdächtige zu verhören und Tatorte zu untersuchen. Unterwegs gibt es nichts zu tun, ausser gelegentlich an menschlichen Bluttankstellen Blut zu zapfen. Damit lade ich meine investigativen Vampirfähigkeiten auf, ohne die das Spiel nicht weitergeht. Es ist also eine komplette Zeitverschwendung.
Die implementierten, extrem lächerlichen, Romantik-Optionen für einige Nebenfiguren sind mir ein absolutes Rätsel. Viel mehr als die völlig offensichtlichen Antworten zu wählen, um das Gegenüber zu bezirzen, braucht es nicht. Sobald es zum Schäferstündchen kommt, wird das Bild für ein paar Sekunden schwarz. Mal höre ich etwas Gestöhne, vielleicht mal einen Satz oder eine Peitsche und das war’s. Dagegen ist «Leisure Suit Larry» ein Hardcore-Porno.
Die Stimmung im kitschig weihnachtlichen Seattle trägt einen gossen Teil dazu bei. Ein paar ikonische Bauten oder entdeckungswürdige Objekte mehr hätten zwar nicht geschadet. Ich schlendere oder besser gesagt, schwebe trotzdem gerne durch diese neonleuchtende Stadt. Denn selbst als reine Kulisse ist die Welt einen Besuch wert. Und die Geschichte aus Mord, Intrigen und Machtkämpfen passt perfekt hinein.
«Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2» ist kein echter Nachfolger von Troikas Kultrollenspiel. Aber ganz ehrlich: Hätte er anders geheissen, hätte ich ihn vermutlich nie ausprobiert. Wenn du wie ich Fan von Vampir-Geschichten und Film-Noir-Setting bist, steht dir ein spannender Krimi bevor. Mir hat er sogar wieder Lust auf das Original gemacht. Mal schauen, welche Klasse ich da noch nicht ausprobiert habe.
Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken.
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
Alle anzeigenWürde «Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2» anders heissen, da bin ich überzeugt, wären die Kritiken positiver. 64 Prozent auf Opencritic sind enttäuschend. Dass es über 20 Jahre und mehrere Studios gebraucht hat, um einen Nachfolger des Kultrollenspiels von 2004 herauszubringen, zeigt die Schwierigkeit des Projekts. Obwohl das Vampir-Game damals ziemlich verbugged veröffentlicht wurde, hat es längst Legendenstatus erreicht. Es bot ein einzigartiges Setting mit mafiaartigen Vampir-Klans, düsteren Geschichten und einem komplexen Rollenspielsystem mit Klassen, die sich komplett unterschiedlich spielen. Für sich alleine betrachtet, serviert «Bloodlines 2» dennoch einen spannenden Vampir-Krimi in einem märchenhaften Seattle.
«Bloodlines 2» fängt stimmig an. Ich erwache aus einem tiefen Schlaf und finde mich orientierungslos in einem verlassenen Hochhaus wieder. Was mache ich hier, wie bin ich hergekommen und was ist das für ein geheimnisvolles Mal auf meiner Hand? Nicht nur ich bin verwirrt. Da ist noch eine zweite Stimme in meinem Kopf. Und die ist genauso überrascht darüber, sich in einem fremden Körper wiederzufinden. Dieser gehört Phyre, einer sogenannten «Ahnin», einer reinblütigen Vampirin. Sie oder er – beides steht zur Auswahl – ist besser bekannt als Nomade. Einer geheimnisvollen Figur, die schon seit hunderten Jahren über die Erde wandert. Die männliche Stimme wiederum gehört Fabian, einem Kriminalpolizisten, der ebenfalls zur Familie der Blutsauger gehört.

Die Dynamik der beiden gefällt mir von der ersten Minute an. Phyre ist eine mächtige Vampirin, die schon viel erlebt hat und die nichts so schnell beeindruckt. Fabian ist der typische abgehalfterte Schnüffler, mit winzigem Büro, der wenig Respekt geniesst, aber eine feine Spürnase hat. Nach anfänglicher Skepsis wärmt sich die Beziehung der beiden mit der Zeit auf. Beide wirken erfrischend erwachsen. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, wer oder was sie zu ihrem Schicksal geführt hat.
Die Hauptgeschichte ist das Highlight des Spiels. Sie wird getragen von zahlreichen charismatischen Persönlichkeiten, die im Englischen hervorragend vertont sind. Die Figuren bewegen sich zwar nur wenig während der Unterhaltungen, ihre Gesichter sind allerdings äusserst ausdrucksstark. Und sie sind fast alle in dramatisch ausgeleuchteten Szenen platziert. Die Forscherin Safia treffe ich meist in ihrem dunklen Labor, das in grelles Rot getaucht ist. Lou, die abgesägte Vorgängerin des aktuellen Prinzen, wartet in einer opulent eingerichteten und schummrig beleuchteten Hotelsuite auf mich. Niko, der Pfandleiher, hat immer seine Kapuze über sein Piercing-übersätes Gesicht gezogen, das von einem grünen Licht erhellt wird. Meist kann ich nicht mal die Quelle für die knallige Beleuchtung ausmachen, aber das spielt gar keine Rolle. Hauptsache, es sieht toll aus.

Ebenfalls gelungen ist die Vampir-Powerfantasie. Im Körper von Phyre sprinte ich in rasantem Tempo durch die Strassen, renne Wände hoch und schwebe über Häuserdächer. Das Traversieren durch Seattle macht extrem viel Spass. Auf den Dächern bin ich unauffälliger, als wenn ich wie ein wildes Tier auf allen Vieren durch die Strassen hechte. Schliesslich gilt es, die Maskerade aufrechtzuerhalten und nicht als Vampir erkannt zu werden. Schlürfe ich mitten auf dem Gehsteig einen Passanten aus, als wäre er eine Bloody Mary, sitzt mir schnell die Polizei im Nacken. Übertreibe ich es komplett, endet das Spiel mit einem Game-Over-Screen, aber nicht ohne mir von einem Jäger einen Pflock durchs Herz rammen zu lassen.

Es mangelt etwas an Variation, sowohl bei den Gegnertypen, als auch bei der Herangehensweise. Das macht die grosse Mobilität teilweise wieder wett. Waffen oder sonstige Ausrüstung gibt es keine. Ich kann Waffen lediglich per Telekinese auf Feinde abfeuern. Manchmal verkommen die Kämpfe zu Trial and Error, weil ich selbst als Supervampir schnell überwältigt werde. Während ich nämlich an einem Feind knabbere, um Leben und Energie aufzutanken, prügeln die Gegner weiterhin auf mich ein.


Fabian kann mit Toten, aber auch mit Gegenständen wie Aktenschränken und Billardtischen reden. Es ist nur eine ausgeschmückte Darstellung von Fabians Gedankengängen, aber eine sehr unterhaltsame. Besonders, wenn er die Stimme von Gegenständen imitiert. Fabian kann auch die Gedächtnisse von Menschen und Vampiren manipulieren, um an ihre Erinnerungen zu kommen. Dass ich für die Ermittlungen ständig von einer Ecke Seattles in die andere spazieren muss, fühlt sich nicht besonders vampirig an. Anders als Phyre kann Fabian weder Wände hochklettern noch schweben.

Ich bin trotzdem absoluter Fan von Fabians Film-Noir-Charakter. Sein trockener Humor und seine mitfühlende Art machen ihn sehr sympathisch. Auch wenn das Spiel träge wird, sobald er die Zügel in die Hand nimmt. Wenn es wenigstens spannende Entscheidungen zu fällen gäbe. Das Spiel ist sehr linear. Zwar reagieren Charaktere auf gewisse Antworten unterschiedlich, nach zwei Dritteln des Spiels habe ich dennoch kaum spürbare Auswirkungen feststellen können. Die sechs verschiedenen Enden wird es sicherlich beeinflussen, aber für das eigentliche Spiel ist es eine vertane Chance. Genau wie die Nebenaufgaben, die selten spannende Dialoge bieten und meist nur aus Liefer- oder Mordaufgaben bestehen. Dass es nicht mal ein Questlog gibt, sagt eigentlich alles.

«Bloodlines 2» bringt mein Blut nicht vollends in Wallung. Die besonderen Momente reichen nicht an jene aus dem ersten «Bloodlines» heran. Der Horror-Abstecher ins Ocean Hotel oder die «Sibling Rivalry»-Quest mit dem Lama sind mir auch 20 Jahre später noch präsent. Durch das grandiose Leveldesign und den Soundtrack, der zwischen Klassik, Rock und Elektro variiert, packt mich «Bloodlines 2» dennoch.