

Hässlich, teuer, leider geil

Der allererste planarmagnetische Ohrhörer der Welt! Audeze hat ein kleines Wunderwerk geschaffen: Den iSine 10 und den noch edleren Bruder iSine 20. Letzteren hat uns Audeze für einen Test zur Verfügung gestellt.
Herkömmliche dynamische Kopfhörer setzen wie auch die allermeisten Standlautsprecher auf Tauchspulenlautsprecher oder Kalotten als Schallwandler. Wie wir alle wissen, kann das saugut klingen. Die Latte ist also hoch gelegt. Wenn eine Firma aber mutig genug ist, um Althergebrachtes herauszufordern, sollte man hingucken. Oder in diesem Fall: hinhören.
Ausserdem versuchen diese Systeme, der – noch nicht erfundenen! – idealen Punktschallquelle näher zu kommen. Das Stichwort hier sind Gruppenlaufzeiten: Frequenzen brauchen unterschiedlich lange, um zu deinem Ohr zu gelangen. Die Punktschallquelle gibt alle Frequenzen genau zeitgleich ab und bildet das, was die Mikrofone aufgenommen haben, ideal ab.
Das Problem mit diesen Technologien ist, dass sie – im Gegensatz zur Tauchspule – schlecht miniaturisierbar sind. Elektrostatische Kopfhörer gibt es seit Jahrzehnten. Die Kopfhörer von Stax aus Japan klingen legendär gut, sind aber auch unglaublich hässlich.
(Vielen Dank an dieser Stelle an Max für die Leihgabe!)
Mit Oppo gibt es einen weiteren Hersteller, der seit einigen Jahren mit planarmagnetischen Kopfhörern aufwartet. Die Chinesen waren lange bekannt für DVD- und Bluray-Player. Seit 2008 mischen sie im Smartphone-Markt mit, 2014 folgten die Kopfhörer. Sie geniessen einen sehr guten Ruf.
Jetzt hat es Audeze geschafft, einen Ohrhörer mit planarmagnetischer Technologie zu fertigen. Allein dafür gebührt dem Hersteller Respekt. Aber schauen wir uns einmal an, was du bekommst.
Das ist in der Packung
Ich fange mit den schlechten Nachrichten an.
Der erste Schocker ist der Preis: Sechshundertfünfzig Franken!
Der zweite Schocker ist die Optik: Welches Alien hat denn diese Dinger auf der Erde vergessen?!
Im unteren Teil der Packung befindet sich eine stabil gefertigte Tasche. Im Auslieferungszustand sind in der Tasche, in der später die Ohrhörer verschwinden, verschiedene Aufsätze für kleinere oder grössere Gehörgänge dabei. Insgesamt stehen drei Paare zur Verfügung: klein, mittel und gross. Ich habe alle ausprobiert. Die ursprünglich montierte mittlere Grösse hat für mich am besten gepasst.
Ah ja, auf einem USB-Stick (128 GB) ist das Manual enthalten. Ein Bürsteli zur Reinigung ist auch dabei, genau wie ein handsigniertes Echtheitszertifikat aus der Qualitätskontrolle. Gut gemacht, «S. Temple», wenn ich das richtig entziffere.
Das Cipher-Kabel
Das Mittelstück mit der Elektronik ist recht schwer und wird deshalb mit einem Clip zum Beispiel am Hemdkragen fixiert. Auch dann schlenkert es bei Bewegungen aufgrund seines Gewichts herum. Hier hätte ich mir eine Variante gewünscht, die näher am Hosensack platzierbar ist. Das Cipher-Kabel saugt ausserdem spürbar am Akku mit. Der Effekt ist nicht dramatisch, aber man merkt schon, dass sich die Batterie etwas schneller leert.
Erwähnenswert ist die (für iOS) erhätliche Gratis-App von Audeze. Damit lassen sich zwei verschiedene Presets erstellen, mit denen bestimmte Frequenzbereiche gedämpft werden oder sich hervorheben lassen. Ich habe damit herumgespielt, um die für mich etwas strammen Bässe etwas zurückzunehmen. Die App verändert die Musik nicht softwaremässig; sie schickt die Einstellungen ans Cipher-Kabel, das die Aufgabe mit seinem Hardware-Equalizer löst.
Eine Variante mit USB-C für Androiden ist gerüchteweise in Arbeit. Android-Benutzer greifen vorerst besser zur Variante, die nur das Standard-Kabel im Karton hat und fünfzig Franken günstiger ist.
So klingt das Teil
In den Mitten geben sich die Ohrhörer keine Blösse. Sehr angenehm, rund. Einfach klasse! Besonders ausgeprägt sind die Bässe. Hier brillieren die iSines und deklassieren sämtliche mir bekannten Ohrhörer. Sie haben ordentlich Druck, ohne herumzuwabern und an Klarheit einzubüssen. Mir waren die Bässe fast schon zu deftig und ich nahm sie mit dem Hardware-Equalizer (siehe oben) etwas zurück.
Ich finde, die wahren Qualitäten eines Lautsprechers oder eines Kopfhörers hört man immer dann, wenn man ihn leise spielen lässt. Denn laut tönt es immer geil. Deshalb muss auch jeder Verkäufer zwanghaft das Potentiometer bis zum Anschlag aufdrehen, sobald er einen Lautsprecher demonstriert. Leise ist es etwas anderes: Werden noch immer alle Nuancen herausgearbeitet? Hat der Bass noch Kraft? Ist das Klangbild ausgewogen? Auch hier: Sehr gute Noten für die iSine 20.
Präsenz und Bühne sind hervorragend. Hat man sie einmal in den Ohren, vergisst man sie rasch und geniesst einfach nur noch die Musik.
Fazit
Diese Ohrhörer sind wirklich tolle Teile. Klanglich sind sie allererste Sahne. Sie stellen nicht nur sämtliche Ohrhörer in den Schatten, die ich probieren durfte, sie konkurrieren auch mit qualitativ hochwertigen On-ears und Over-ears.
Ihre speziellen Eigenschaften machen die iSine 20 zu einem sehr speziellen Ohrhörer. Ihr Preis macht klar, dass die Zielgruppe Audiofreaks sind, die viel Geld für viel Leistung auszugeben bereit sind. Und die über gewöhnungsbedürftige Optik hinwegsehen, wenn die inneren Werte stimmen. Das Problem: Diese Zielgruppe bevorzugt üblicherweise Over-ears, da diese bauartbedingt mehr leisten können.
Die iSine 20 sind ein Nischenprodukt innerhalb der Nische «audiophile Geräte». Aber was für eines! In Sachen Ohrhörer kommt für mich Audeze und dann lange nichts. Auf der anderen Seite würde ich mich – wäre ich ein Gym-Jünger – eher für zwei verschiedene Geräte entscheiden: Ein hochklassiger Over-ear für daheim und solide Ohrhörer für den Sport.
Pro:
- überragender Klang
- hochwertige Verarbeitung
- angemessene Ausstattung
- Cipher-Kabel
Contra:
- für Ohrhörer riesig
- für Ohrhörer unhandlich
- schlechte Isolation
- schwer
- teuer
Der kleine Bruder
Jetzt du!
Update 25.4.: Wir haben drei würdige Kandidaten gefunden. Bitte keine Mails mehr schreiben. Merci!
Getestet


Ich bändige das Editorial Team. Hauptberuflicher Schreiberling, nebenberuflicher Papa. Mich interessieren Technik, Computer und HiFi. Ich fahre bei jedem Wetter Velo und bin meistens gut gelaunt.
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