
Meinung
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von Rainer Etzweiler

Das Shonen-Genre steht im Animebereich für geballte Action. «Hunter x Hunter» beweist, dass sich das auch mit Tiefgang kombinieren lässt.
Shonen (aus dem Japanischen für «少年», bedeutend «Junge») ist ein Genre für Animes und Mangas, dessen Zielgruppe primär männliche Jugendliche sind. Auf dem japanischen Markt ist das Genre am stärksten vertreten. Es zeichnet sich vor allem durch Action, Abenteuer und den Kampf zwischen Gut und Böse aus.
Wenn du ein Anime-Dinosaurier bist, könnte dir der Begriff der «Big Three» bekannt vorkommen. In den 2000er-Jahren wurde er für die Kombination der drei Shonen-Werke «One Piece», «Naruto» und «Bleach» genutzt, weil sie das Medium weltweit popularisiert haben.

Während «One Piece» die Anime-Community bis heute auf Trab hält, sind zahlreiche Neuerscheinungen ins Rampenlicht getreten: «Jujutsu Kaisen», «Demon Slayer», «My Hero Academia», «Chainsaw Man», «Dan Da Dan» und noch viele mehr. Ein Werk, dessen Manga seit 1998 unregelmässig veröffentlicht wird, stellt jedoch Alt und Neu in den Schatten. «Hunter x Hunter» aus dem Jahr 2011 ist für mich der beste Shonen-Anime aller Zeiten. Warum verrate ich dir hier.
Der Beginn von «Hunter x Hunter» – das übrigens «Hunter Hunter» ausgesprochen wird, das «X» ist stumm – entspringt dem klassischen Shonen-Regelwerk. Der Protagonist Gon ist ein zwölfjähriger Junge, der seinem verschollenen Vater nacheifern möchte. Er will ein sogenannter «Hunter» werden und muss dafür eine Prüfung absolvieren. Die Geschichte beginnt mit kindlicher Unschuld, einem klaren Ziel und purer Abenteuerlust.

Bereits früh merke ich, dass die Action von «Hunter x Hunter» nicht ganz so kindlich wie bei vielen Genre-Kollegen ist. Ein Teilnehmer der Hunter-Prüfung ermordet aus reiner Lust und Laune seine Konkurrenz. Gons neuer Freund Killua ist giftresistent, weil er als Kind ein knallhartes Assassinen-Training absolviert hat. Das wird weniger lustig dargestellt als in vielen anderen Animes. Stattdessen behandelt «Hunter x Hunter» die Traumata, die damit einhergehen.
Spätestens nach der Hunter-Prüfung entfaltet sich die ernste Natur des Shonens. Es bleibt zwar dabei, dass Gon als lebensfroher Junge einen typischen Shonen-Protagonisten darstellt. Die Welt, in der er sich bewegt, nimmt jedoch keine Rücksicht darauf.

Ich kippe bei manchen Handlungssträngen regelrecht aus den Latschen. Sympathische Nebencharaktere landen plötzlich als Leichen vor Schurken, die an ihren Körpern herumexperimentieren. Eine Verbrechergruppe ermordet beinahe einen ganzen Clan für ihren eigenen Profit. Vor allem, wenn Gon mal nicht im Mittelpunkt steht, sehe ich die Welt nicht mehr aus seinen optimistischen Augen. Das macht seine Geschichte keinesfalls langweilig oder gar belanglos – sie bleibt eine spannende und wundervolle Abwechslung.
Durch Gon erlebe ich die reine Abenteuerlust und die besten Seiten des Shonen-Genres kommen zum Vorschein. Neben der Hunter-Prüfung nimmt er unter anderem an einem Turnier teil und macht eine Reise in eine virtuelle Welt. Von langweiligen Füllinhalten fehlt jede Spur.

Auch in einem weiteren Punkt schlägt «Hunter x Hunter» die Konkurrenz: seinem ausgearbeiteten Kampfsystem.
Wie in anderen Shonen haben die Charaktere aus «Hunter x Hunter» oft übernatürliche Kräfte. Das System heisst «Nen». Ganz simpel erklärt ist das die Lebenskraft, die Menschen zu beherrschen lernen. Jede Person hat dabei Aspekte in ihren Fähigkeiten, die ihr von Natur aus mehr liegen: Während Gon zum Beispiel gut darin ist, seine physische Kraft zu verstärken, können andere Personen besser Waffen beschwören oder Blitze produzieren. Alle können alles lernen – die Mühe, die ein Talent kostet, ist jedoch an die natürliche Begabung geknüpft.

Das System hat klare Regeln und bleibt logisch, bietet aber gleichzeitig genug Freiraum, um spannende Fähigkeiten zu erschaffen. Die Mischung aus Durchdachtheit und Kreativität gehört zu meinen liebsten Kampfsystemen in Shonen-Werken.
Shonen ist nicht gleich Shonen. «Hunter x Hunter» ist bei weitem nicht das einzige Werk, das neben unschuldiger Abenteuerlust eine grausame Welt porträtiert. Für mich steht es jedoch an der Spitze, weil es auf die ganzen Kinderkrankheiten des Genres verzichtet.
Die grössten Shonen leiden unter ihrer Beliebtheit. Wenn ich mir zum Beispiel «One Piece» anschaue, finde ich das Tempo der Handlung sowohl im Manga als auch im Anime quälend langsam. Wenn seit über 25 Jahren Kapitel beinahe im wöchentlichen Rhythmus erscheinen, können nicht alle gleich spannend und voller Inhalte bleiben. So verliere ich nach einigen kampffokussierten Kapiteln irgendwann das Interesse. Dasselbe gilt für den Anime: Damit er den Manga nicht irgendwann einholt und keine Vorlage mehr zum Adaptieren hat, werden ständig Szenen bis zur Belanglosigkeit in die Länge gezogen.
Das Ergebnis ist eine spannende Geschichte, die mich aber aufgrund des schwankenden Tempos immer wieder verliert.

Die 2011er Anime-Adaption von «Hunter x Hunter» verzichtet auf Füller und hat ein angenehmes Tempo. Ich sitze während der gesamten 148 Folgen gebannt vor dem Bildschirm. Der einzige Wermutstropfen ist, dass die Anime-Adaption mitten in der Geschichte endet, weil die Manga-Vorlage bis heute nicht abgeschlossen ist.
Diesen Schmerz kann ich aufgrund der Genialität von «Hunter x Hunter» überwinden. Mit Gon und seinen Freunden sehe ich endlich Helden bei ihrem Abenteuer zu, die nicht den Mittelpunkt der Welt darstellen. Klar: Wie viele Anime-Helden ist Gon besonders begabt. Damit ist er aber nicht allein und dem jetzigen Stand nach nicht der Auserwählte, der eines Tages die Welt retten wird.
Die Rolle der Auserwählten verliert irgendwann ihre Bedeutung, wenn sie über alle Heldinnen und Helden gestülpt wird. In «Dragon Ball» ist es meistens Son Goku, der zur Rettung eilt – selbst wenn es sich eigentlich ergeben hätte, dass er den Stab an seine Kinder weitergibt. «Naruto» beginnt mit dem Traum eines gemobbten Waisen, der von seinem Dorf anerkannt und dafür Oberhaupt werden möchte. Dass das Schicksal der gesamten Welt von ihm abhängt und alle anderen Ninjas ausser seinem Rivalen Sasuke irrelevant sind, setzt übertrieben hohe Massstäbe. Selbst Ruffy aus «One Piece», den viele mochten, weil er ein lustiger Gummimensch ist, der Piratenabenteuer erlebt, wird immer mehr zum Auserwählten.

Durch die Auserwählten-Rolle fühlen sich viele Hauptcharaktere aufgrund ihrer Wichtigkeit unantastbar an. In «Hunter x Hunter» haben Handlungen Konsequenzen. Es steht etwas auf dem Spiel. Gon wird nicht zum absoluten Übermenschen, weil er am lautesten schreit oder weil er von einer legendären Familie stammt. Das macht die Welt greifbar, realistisch – auch wenn wir gerade von Superkräften reden.
Einen grossen Wermutstropfen gegenüber anderen Shonen-Mangas hat «Hunter x Hunter» dennoch. Der liegt nicht einmal im Werk selbst, sondern in den Rahmenbedingungen.
«Hunter x Hunter» wird seit 1998 vom Mangaka Yoshihiro Togashi gezeichnet und geschrieben. Trotzdem sind gerade einmal etwas mehr als 400 Kapitel erschienen – Mangaka Eiichiro Oda hat für «One Piece» beinahe das Dreifache veröffentlicht.
Das kommt dem Tempo der Geschichte entgegen, doch der Grund dafür ist leider unschön: Togashi hat seit Jahren mit seiner Gesundheit zu kämpfen. Er leidet unter chronischen Rückenschmerzen, die es ihm immer wieder unmöglich machen, über längere Zeit zu sitzen und zu zeichnen. Deswegen wird die Veröffentlichung des «Hunter x Hunter»-Mangas regelmässig pausiert. Das Erscheinen der Kapitel ist so sporadisch geworden, dass Manga-Fans es auf dem selbsternannten «Hiatus x Hiatus»-Chart festhalten.

Es steht die Befürchtung im Raum, dass «Hunter x Hunter» nie abgeschlossen wird, auch wenn Togashi behauptet hat, dass seine Ehefrau – Naoko Takeuchi, die Mangaka von «Sailor Moon» – das nach seinem Ableben übernehmen könnte.
Dem Mangaka und seinem Werk zuliebe ist zu hoffen, dass seine Leiden irgendwann nachlassen.
Titelbild: Yoshihiro Togashi, Madhouse
Meinen ersten Text über Videospiele habe ich mit acht Jahren geschrieben. Seitdem konnte ich nicht mehr damit aufhören. Die Zeit dazwischen verbringe ich mit meiner Liebe für 2D-Husbandos, Monster, meinen Krawallkatzen und Sport.
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