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Meinung

Ich brauche dringend einen Oldtimer! Mein Leben mit ADHS

Thomas Meyer
28.7.2021

Es gibt genau zwei Tätigkeiten, bei denen es mir gelingt, mich für mehrere Stunden zu konzentrieren: schreiben und ernsthafte Gespräche führen. Bei allem anderen klappt es meist nicht mal für eine Minute. Ich habe ADHS.

Sie schickte mir ein paar Links. Ich las, dass ADHS nicht nur Konzentrationsschwierigkeiten und Ungeduld zur Folge hat, sondern auch eine Neigung zum Chaos, Sprunghaftigkeit, Impulsivität, Stimmungsschwankungen, Einschlafschwierigkeiten, mangelnde Verhaltenskontrolle, Vergesslichkeit bis hin zum Filmriss und so einiges mehr. Alles Dinge, die ich ziemlich gut von mir kannte, aber nie in Zusammenhang gebracht hätte.

Was in den Aufzählungen übrigens fehlte: die Ohrwürmer! Ständig habe ich irgendeine Melodie im Kopf. Aber nicht etwa gute Songs, sondern völlig beliebige Dinge wie «Multipack, Multipack, Radio 24!», die ich irgendwann gehört hatte (es muss lange her sein, man findet im Netz nichts darüber), mir Jahre später unvermittelt einfielen und mich beim Sex oder Einschlafen störten.

Das ist ADHS: Du liegst mit einer Frau im Bett, und alles, was Dir dazu einfällt, ist ein Radio-Jingle.

Einfache Diagnose, schwierige Hilfe

Ich erinnerte mich, dass ich im Gymnasium auf diese Weise nicht wenige Prüfungen in den Sand gesetzt hatte. Weil da noch eine Rückseite gewesen wäre.

Das ist ADHS: Du findest, du brauchest dringend einen Oldtimer, einen Mercedes der prächtigen Baureihe W123. Und beschaffst dir dann auch gleich einen. Das geht ja, dank Leasing. Und dann setzt du dich da rein, fährst 500 Meter und merkst: Naja, eigentlich brauche ich gar keinen Oldtimer.

Fuck it

All das empfand ich stets als eine Ansammlung von isolierten Charakterdefiziten, die ich unbedingt loswerden wollte, aber nicht konnte. Ich wollte besser zuhören können, mir wichtige Dinge besser merken, Menschengruppen besser aushalten, mich nicht so Hals über Kopf verlieben, sparsamer sein, besonnener, geruhsamer, aber es gelang nicht. Auch nicht mit künstlichen oder natürlichen Hilfsmitteln.

Eines Tages fand ich: Fuck it. Du bist unkonzentriert, vergesslich, chaotisch und sprunghaft, und vermutlich bleibst du es auch. Nimm es an, statt es abzulehnen, und lerne, damit zu leben.

Der Umgang mit ADHS

Als Nächstes nahm ich mir vor, über sämtliche Beschaffungen einmal zu schlafen. Ich darf also weiterhin schamlos alles in den Digitec- bzw. Galaxus-Warenkorb legen, was mir gefällt, aber erst am nächsten Tag auf »Bestellen« klicken. Das funktioniert ganz gut. Meist. Manchmal vergesse ich die Regel. Und dann die Bestellung. Und dann klingelt am nächsten Morgen der Postbote, und ich bin ganz neugierig, wenn ich das Paket aufmache: Was da wohl drin sein mag? Hui!

Auch sonst versuche ich, meiner Disposition die heiteren Seiten abzugewinnen, was vor allem mit anderen ADHS-Menschen gut funktioniert, zum Beispiel meiner Schwester.

ich: (sagt etwas über den Alltag mit ADHS)
meine Schwester: (sagt etwas über den Alltag mit ADHS)
ich: (sagt etwas zu einem ganz anderen Thema)
meine Schwester: (sagt etwas zu einem ganz anderen Thema)
ich: »Wovon haben wir eben gesprochen?«
meine Schwester: »Äh …«
ich: (lacht)
meine Schwester: (lacht)

Warum das Schreiben und Gespräche, in denen es um ernsthafte Dinge wie Beziehungen geht, von ADHS in meinem Fall nicht betroffen sind, weiss ich nicht. Ich kann unmöglich Hemden bügeln, ohne alle zwei Minuten auf mein Handy zu schauen, aber den ganzen Vormittag an einem Text wie diesem sitzen. Ich kann keinen Smalltalk führen, aber den ganzen Abend mit jemandem über seine oder ihre Trennung sprechen. Da bin ich voll bei der Sache.

Im Internet gibt es viele Tests mit schönen Fragen wie dieser: »Wie oft fällt es dir schwer, dich darauf zu konzentrieren, was Leute zu dir sagen, auch dann, wenn sie direkt mit dir reden?«

Du weisst, dass ein solcher Test für dich gemacht ist, wenn du ab Frage 11 von 18 die Fragen nicht mehr genau liest, weil du endlich das Resultat sehen willst.

Kennst du das alles? Oder von jemandem, die oder der dir nahesteht? Erzähl darüber in den Kommentaren!

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Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch. 


Meinung

Hier liest du eine subjektive Meinung der Redaktion. Sie entspricht nicht zwingend der Haltung des Unternehmens.

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