MyKi Watch: Die russische Anti-Kidnapping-Smartwatch
Produkttest

MyKi Watch: Die russische Anti-Kidnapping-Smartwatch

Beim Aufräumen meines Pults ist mir eine Smartwatch mit grossem Smiley-Gesicht in die Hände gefallen. Das Teil hatte ich schon fast vergessen, obwohl es etwas vom Seltsamsten ist, das ich in meinem ohnehin seltsamen Assortement von Dingen auf meinem Pult habe. Dass du das Ding bei uns kaufen kannst? Undenkbar.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich an die MyKi Watch gekommen bin. Ich und Video Editor Stephanie Tresch waren nach einem Messetag am Mobile World Congress (MWC) in Barcelona auf dem Weg zurück ins Hotel, wo wir Texte geschrieben und Videos geschnitten haben. Da kommt so ein Herr mit einer grossen Tasche auf uns zu. Der Blick in seinen Augen verrät, dass er mit mir ins Gespräch kommen möchte. Er schaut mir direkt in die Augen.

Ich frage mich, ob ich den Herrn kenne.

Stephanie wundert sich auch.

Wir als Schweizer sind in dieser Situation total überfordert, spricht doch kein normaler Schweizer jemals jemanden auf offener Strasse an.

Doch der Herr spricht:

«Are you media», fragt er mit dickem Akzent, der irgendwie russisch klingt. Ob wir Medien sind? Ja. Ich bin Journalist, Stephanie ist mit knapp 13 Kilogramm Kameraequipment beladen. Ich denke, das sieht man uns an, selbst wenn die Augenringe nach etwa drei fast schlaflosen Nächten der Distanz wegen noch nicht sichtbar sind.

«Uh… yes», antworte ich.

«Very good. Have sample», sagt der Mann, drückt mir eine Verpackung in die Hand und zottelt weiter zur nächsten Person, die er auch fragt, ob sie Medien seien. Denen drückt er auch eine Verpackung in die Hand.

Stephanie und ich sind etwas ratlos. Was war hier grade geschehen? Wir schauen uns das Teil an.

Eine Smartwatch, die wir einfach in die Hand gedrückt bekamen. Was soll das?

Es ist eine Smartwatch, die ein breites Smiley-Gesicht drauf hat. Für Kinder? Keine Ahnung. Betriebsanleitung? Hat es vielleicht. Der Russe, der uns das Teil in die Hand gedrückt hat, ist auch schon weit weg. Wir packen das Teil in eine unserer Taschen und vergessen es umgehend wieder. Bis heute. Denn auch wenn mein Pult in der Regel aussieht, als ob eine Bombe eingeschlagen hat, verloren geht eigentlich nie etwas. Egal, was meine Mitarbeiter behaupten. Beim Aufräumen fällt mir die Uhr wieder in die Hand.

Привет! А ты говоришь по-русски?

Die Uhr startet auf. Ein Jingle scheppert aus den zweifelsohne billig verbauten Boxen. Jesses, klingt das schlecht.

Akku leer.

Okay, dann hängen wir das quietschbunte Teil halt an mitgelieferte Ladekabel, das mit LEDs bestückt ist. Mein Pult sieht aus wie ein Weihnachtsbaum.

Gut, schauen wir uns mal die Verpackung an. Hersteller des Geräts ist MyKi, ein Hersteller, der offensichtlich Kapital aus dem Schutz des Kindeswohls schlagen will. Für uns Schweizer etwas unverständlich, wo wir doch schon finden, dass es unüblich ist, Kinder in die Schule zu fahren.

Welche Sprache spricht die Uhr mit uns? Wir wissen zwar, was sie uns sagen will, aber die Sprache ist uns unbekannt

MyKi ist eine Marke, die zum bulgarischen Konzern Allterco Robotics gehört. War der Russe, der uns die Uhr gegeben hat, etwa Bulgare? Wir wissen es nicht. Aber wir vermuten mal, dass in der ehemaligen UdSSR und ihrer Nachbarländer Kinder von Leuten, die sich Smartwatches für Kinder leisten können, eher in Gefahr sind. Eine kurze Recherche zeigt, dass das tatsächlich eine Art Problem zu sein scheint, mit der sich die Länder auseinandersetzen müssen. Wie gross das Problem ist, ist aber unbekannt. Offensichtlich gross genug, dass es sich lohnt, Geschäft damit zu machen. Oder wir sehen uns einer Huhn/Ei-Frage gegenüber. Was war zuerst? Angst vor Kindesentführungen, die dann zu Smartwatches geführt haben? Oder Smartwatches, die den Eltern nicht nur Geräte sondern auch eine Sorge verkaufen?

Machen wir es doch so: Wenn du nähere Informationen zum Thema hast, vielleicht sogar selbst aus dem Ostblock stammst, lass es uns in einem Kommentar wissen, oder schreib mir ein Mail. Weil interessant ist das allemal.

Ние говорим български

Die Uhr startet nach dem Jingle auf und warnt sofort, dass keine SIM-Karte eingesetzt ist. Ignorieren wir das mal, weil unbedingt vertrauen tue ich einem mysteriösen Russenbulgarengerät, das mir einfach mal so in die Hand gedrückt wurde und dessen ausdrücklicher Zweck die Überwachung ist, nicht.

Der Notruf an die Eltern, inklusive genaue Geolocation der Uhr, kann mit Druck auf den Knopf an der Seite abgesetzt werden

Ein Test an meinem Handgelenk wird schwierig, denn das Wort «schmal» ist so eines, das generell nicht mit mir in Verbindung gebracht wird. Gewichtheber und Strongman-Athlet halt. Daher suche ich mir ein schmales Handgelenk: Digital Media Designer Pascale Anderegg hat feine Hände. Die sind sicher an schmalen Handgelenken befestigt.

Passt!

Die Funktionen sind überschaubar und darauf ausgelegt, dass die Daten in kleiner Datenmenge und auch bei schlechtem Empfang übertragen werden können. Das GPS-System kann nicht ausgeschaltet werden. Generell sind die Einstellungen überschaubar:

  • Lautstärke
  • IMEI-Informationen

Weitere Informationen sind nicht auslesbar. Nicht mal, was für ein Betriebssystem auf der Uhr läuft. Es fühlt sich so halb wie eine Android-Distro an, die aber weit von Android Wear entfernt ist, falls Android Wear überhaupt etwas damit zu tun hat. Das User Interface gleicht nichts, das ich oder jemand anders im Büro schon mal gesehen hat. Aber an ein Homebrew glauben wir nicht.

Pascale ist entweder tot oder hat keinen Puls

Weitere Features der Uhr:

  • Pedometer, der nicht zu funktionieren scheint
  • Herzfrequenzmesser, der immer 0 anzeigt
  • Adressbuch, das lokal nicht editiert werden kann
  • Sprachnachrichtsaufzeichnungssystem, das ohne «Karte» nicht funktioniert
  • SOS Notrufsystem
  • SMS, die zwar empfangen aber nicht gesendet werden können

Vor allem beim immer auf Null stehenden Herzfrequenzmesser stelle ich mir Fragen. Denn angenommen, mein Kind ist von der Bildfläche verschwunden und ich checke auf meinem Smartphone die Daten meines Kindes und ich bekomme die Meldung «Herzfrequenz: 0», dann mache ich mir doch Sorgen. Weil das bedeutet ja, dass mein Kind tot ist, auch wenn es nur schnell mit dem Kollegen in die Migros gegangen ist, um Eistee zu kaufen. Das wünsche ich keinen Eltern.

Давай посмотрим функции

Das klingt jetzt alles recht komisch und «Hahahaha! Oh mein Gott, wie lustig», aber das ergibt durchaus Sinn im Kontext eines Entführungsszenarios, wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass das tatsächlich ein Problem der Gesellschaft Bulgarienrusslands ist.

Auf dem Homescreen wird die Uhrzeit angezeigt und ein Schnellzugriff für Mama und Papa

Oder auch nur schon im Kontext von Kindern, die mit Smart Devices aufwachsen und über die die Eltern etwas Kontrolle wollen. Denn das Herzstück MyKis ist nicht die Uhr, auf der so gut wie nichts funktioniert, sondern die App für das Smartphone der Eltern. Die App gibt es für Google Android und Apple iOS und hat all die Features, die ein moderner Smartwatch User auf der Uhr erwarten würde.

  • Ortung via GPS und GPRS
  • Verwaltung allerlei Inhalts und personalisierter Daten
  • Fitnesstracking inklusive Schlafphasen
  • Logs von Uhraktivität, wie «Uhr vom Handgelenk entfernt» und «Uhr angelegt»
  • Chat mit der Uhr

Hier wird die Uhr richtig clever. Aus den Basisdaten, die die Uhr übermittelt, werden die Daten im Hinblick auf Kindessicherheit verarbeitet und interpretiert. Das Paradebeispiel hierfür ist die Geschwindigkeitsbegrenzung.

Die Uhr überträgt die Position des Kindes, oder der Digital Media Designerin mit feinem Handgelenk, in Echtzeit zum Smartphone. Dort rechnet das Smartphone mit den Daten und eine Höchstgeschwindigkeit kann festgesetzt werden. Sprich: Wenn die Digital Media Designerin auf mehr als die von mir festgelegten acht Kilometer pro Stunde beschleunigt, schrillen auf meinem Handy die Alarmglocken.

Benutzt Pascale jetzt einen Bus, dann werde ich gewarnt, dass sie nicht mehr zu Fuss unterwegs ist. Wenn wir das jetzt auf ein draussen spielendes Kind münzen, dann geht der Alarm los, sobald das Kind mit einem motorisierten Fahrzeug unterwegs ist. Da Kinder in der Regel selten motorisierte Fahrzeuge steuern, ist das sicher etwas, das Eltern wahrscheinlich gerne wissen würden.

Ferner können sogenannte «Safe Zones» festgelegt werden. Also zum Beispiel das Bürogebäude. Wenn Pascale das Gebäude verlässt, dann geht der Alarm los. Die Analogie hier wäre wohl Kind und Schulweg plus Schule.

Случайно открыть будущее

Im Produktmanagement ist klar: Die MyKi Watch ist nichts für den Schweizer Markt. Klar, wir meinen, dass es wohl auch hier paranoide Väter und Mütter sowie Helikoptereltern gibt, aber mitunter sind die Einstellungen der MyKi Watch nicht allzu gut auf die Schweiz anpassbar. Allem voran: Die Sprache kann nicht verändert werden. Kyrillische Zeichen überall.

Während der Benutzung ist das nicht wirklich ein Problem, denn die MyKi Watch ist für User gemacht, die noch nicht lesen können. Probleme tauchen auf, sobald du auf eine Fehlermeldung triffst. Nur wegen einer Kinderuhr einen Russischkurs – oder war es doch Bulgarisch? – zu belegen halte ich für doch etwas vermessen.

Dennoch: Die MyKi Watch ist zufällig auf ein Verarbeitungsmodell gestossen, das wohl Zukunft hat. Denn beim Modell der Datenverarbeitung ist die MyKi Watch, wohl aus Notwendigkeit und nicht aus Überlegung, seiner Zeit voraus. Wenn auch nicht zwingend technologisch, da das Gerät nur auf das in der Schweiz bald tote 2G-Netz zugreift.

Denn in Zukunft werden die Geräte, die wir auf uns tragen, wohl nur noch Darstellungsgeräte sein. Zumindest, wenn wir dem südkoreanischen Grosskonzern Samsung glauben können. Der mittlerweile grösste Chiphersteller der Welt setzt voll auf 5G, baut Appliances, die den 5G-Standard vom Backbone bis zum Heimrouter durchzieht. Dies hat der Konzern am Mobile World Congress in einer Pressekonferenz bekannt gegeben.

  • News & Trends

    Samsung am MWC - Angriff auf die Glasfaser, 5G und das Internet of Things

    von Dominik Bärlocher

Im Zuge der 5G-Ausbreitung wird es möglich, dass grössere Datenmengen auf einem mobilen Gerät zwar dargestellt werden, nicht aber dort verarbeitet werden. So können die Limitationen des «Geräts, das in eine Hosentasche passen muss», elegant umschifft werden. Datenspeicherung und -verarbeitung können in der Cloud geschehen und das mobile Gerät selbst wird nur Daten darstellen und User Inputs an die Cloud übermitteln.

Ähnlich sieht es bei der MyKi Watch aus. Auf dem Gerät selbst passiert wenig. Ortungsdaten werden gesendet. Verrechnet und interpretiert werden die Daten von einem weit stärkeren Gerät, das an einem völlig anderen Ort ist. So kann lokal an Rechenpower gespart werden und andere Elemente wie Akku oder Display können priorisiert werden.

Doch davon ist die MyKi Watch weit entfernt, selbst wenn sie im Abstrakten futuristisch zu wirken scheint. So theoretisch zumindest.

Ein kleiner Nachtrag: Aus dem Product Management Operations Office heisst es, dass die Uhr Russisch spricht. Wissen wir also zumindest das. Und Dank an Jacqueline für ihre Russischkenntnisse.

20 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar