Hintergrund

Mythos idealer Sitzabstand: Aus Wissenschaft wird Religion

Wie berechne ich den idealen Sitzabstand: Eine simple Frage mit tausend Antworten, die davon abhängen, wen du gerade fragst. Das macht mich stutzig. Wer bestimmt das überhaupt, und auf Grundlage wovon?

Wenn eine simple Frage eine komplizierte Antwort nach sich zieht, dann bei der Suche nach dem idealen Sitzabstand.

Das muss schon in den 1930er-Jahren begonnen haben, als Fernseher die Welt zu erobern begannen. Ich stelle mir dann immer vor, wie einer mal die Frage gestellt hat, wie weit er nun von seinem Flimmerkasten zu sitzen habe. Daraufhin muss irgendwer auf Basis irgendeiner Faktenlage – so à la Handgelenk mal Pi – bestimmt haben, wie der ideale Sitzabstand zum optimalen Fernsehgenuss zu errechnen sei.

Mittlerweile sind seit den Anfängen der Glotze viele Jahrzehnte vergangen. Die Bildtechnologie hat sich vor allem in den letzten zehn Jahren massiv weiterentwickelt. Im Moment verbreiten sich Ultra-HD-Fernseher, aber 8K-/UHD-2-Fernseher lauern am Horizont. Die Frage nach dem idealen Sitzabstand ist aktueller und komplexer denn je geworden. Und sie verlangt nach einer Antwort.

Es ist aber so: Die Sache ist eine Wissenschaft – oder besser: eine Religion – für sich.

Zuerst: Der minimale Sitzabstand

Auf der Suche nach dem TV-Guru-Gott, der mir sagt, wo ich vor meiner Glotze zu sitzen habe, stosse ich rasch auf den minimalen Sitzabstand. Das ist nicht dasselbe wie der optimale Sitzabstand.

Der minimale Sitzabstand gibt an, wie nah du an deinen Fernseher sitzen kannst, ohne einzelne Pixel voneinander unterscheiden zu können. Pixel – das sind Leuchtdioden, die das Fernsehbild erzeugen. Der ideale Sitzabstand hängt von zwei Dingen ab:

  1. Der Pixeldichte
  2. Dem Auflösungsvermögen des Auges

Die Pixeldichte gibt an, wie viele Pixel sich auf der Linie eines Zolls befinden, auch points per inch (ppi) genannt. Je grösser die Dichte, desto schwieriger wird’s fürs Auge, die Pixel voneinander zu unterscheiden.

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Ein Beispiel: Bei einem UHD-Fernseher beträgt die Auflösung 3840×2160 Pixel, die Gesamtanzahl Pixel also 8 294 400 Pixel (3840 mal 2160). Damit die Pixel die Bildfläche eines 65-Zoll-Fernsehers ausfüllen, müssen sie grösser sein als bei einem kleineren 55-Zoll-Fernseher. Das bedeutet, dass beim grösseren Fernseher pro Zoll weniger Pixel vorhanden sind. Ergo: Die Pixeldichte beim 65-Zöller ist geringer als beim 55-Zöller.

Die zwei grossen Vierecke stellen ein Zoll dar, darin befinden sich unterschiedlich grossen Pixel
Die zwei grossen Vierecke stellen ein Zoll dar, darin befinden sich unterschiedlich grossen Pixel
Quelle: Luca Fontana

Das Auflösungsvermögen hingegen beschreibt, inwiefern das menschliche Auge im Stande ist, feinste Strukturen voneinander zu unterscheiden. Oder einfacher: Ab wann ist der Abstand zwischen zwei Pixeln so klein, dass das Auge sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann und stattdessen ein einzelnes Pixel sieht?

In der Diskussion ums Auflösungsvermögen hat Hans Kiening, Ingenieur für Kinotechnik, im Jahr 2002 eine Dissertation verfasst, in der er feststellt, dass der minimale Punkteabstand zwischen zwei unendlich kleinen Pixeln, die aber leuchten, bei einem Sitzabstand von einem Meter mindestens 0,3 mm betragen muss, um vom Auge immer noch als solche wahrgenommen zu werden (Seite 28 im oben verlinkten PDF).

All diese Theorie führt zu drei Formeln:

Der minimale Sitzabstand errechnet sich mit der Grösse eines Zolls in Millimeter – also 25,4 mm –, der Pixeldichte und dem minimalen Punkteabstand. Das habe ich anhand des Beispiels eines 65-Zoll-UHD-TVs ausgerechnet. Damit das geht, musste ich vorher noch die Pixeldichte ausrechnen. Für die Pixeldichte benötigte ich wiederum die Bildbreite in Zoll (siehe Formeln oben).

Du siehst: Bei einem 65-Zoll-UHD-TV beträgt der minimale Sitzabstand 1,25 m. Das heisst, dass du ab jener Entfernung beginnst, die einzelnen Pixel als solche wahrzunehmen und daher keinesfalls näher an den Fernseher sitzen solltest. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis kann das von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, je nach Sehstärke.

Allerdings dürften nur die Wenigsten so nahe vor dem Bildschirm sitzen. Daher ist der minimale Sitzabstand nicht dasselbe wie der ideale Sitzabstand.

Der ideale Sitzabstand

Was genau ist der ideale Sitzabstand? Im Unterschied zum minimalen Sitzabstand geht’s um den Abstand zum Fernseher, der dir das bestmögliche Kino-Gefühl gibt: Je mehr von deinem Sichtfeld durch den Fernseher abgedeckt wird, desto besser. Das binokulare Gesichtsfeld eines Erwachsenen beträgt übrigens etwa 214 Grad.

Das durchschnittliche Gesichtsfeld eines Erwachsenen (rot) und ein Fernseher (blau)
Das durchschnittliche Gesichtsfeld eines Erwachsenen (rot) und ein Fernseher (blau)
Quelle: Luca Fontana

Andererseits sollst du aber nicht zu nah sitzen: Du willst ja nicht bei jedem Tennisspiel, wo der Filzball zwischen den beiden Bildrändern hin und her zischt, eine Halskehre bekommen. Soll heissen: Jep, tatsächlich so nahe wie möglich, aber nur bis zu dem Punkt, wo’s Sinn macht.

Nur: Wo ist dieser Punkt?

Die Branche hat’s noch nicht geschafft, sich auf eine einzige, einheitliche Berechnungsmethode zu einigen. Je nachdem, wen du fragst, kriegst du eine andere Empfehlung. Am meisten genannt werden jene vom Handel – Infos, die Verkaufsplattformen wie digitec von Herstellern erhalten –, jene von der Society of Motion Picture and Television Engineers – kurz: SMPTE – und jene von THX. Sie alle haben gemein, dass der Abstand in Winkelgrad (Blickwinkel) angegeben wird. Sowohl die SMPTE als auch THX unterscheiden bei ihrem Standards nicht zwischen Full HD und Ultra HD.

  1. Handel: 20° Blickwinkel für Full-HD-TVs, 30° Blickwinkel für Ultra-HD-TVs
  2. SMPTE: 30° Blickwinkel
  3. THX: 40° Blickwinkel
Darstellung des Sitzabstands bei einem Full-HD-Fernseher: Je grösser der Sitzabstand, desto kleiner der Blickwinkel
Darstellung des Sitzabstands bei einem Full-HD-Fernseher: Je grösser der Sitzabstand, desto kleiner der Blickwinkel
Quelle: Luca Fontana

Der Zuschauer vor dem Fernseher bildet die Spitze eines gleichschenkliges Dreieck. Zwei Geraden verbinden seinen Kopf und die TV-Ränder. Je näher der Fernseher, desto breiter das Dreieck und desto grösser der Blickwinkel. Die direkte Verbindung zwischen Zuschauer und TV ist der Sitzabstand.

Im Handel gilt ein Sitzabstand, bei dem ein Ultra-HD-Fernseher etwa 30 Grad des Sichtfeldes ausfüllt, als ideal. Wie du von diesem Winkelgrad auf den idealen Sitzabstand kommst, habe ich dir ausgerechnet.

Die Summe aller Winkel in einem Dreieck ergibt immer 180 Grad
Die Summe aller Winkel in einem Dreieck ergibt immer 180 Grad
Quelle: Luca Fontana

Formeln:

Berechnung:

Der Faktor x ist der Wert, mit dem du die Bilddiagonale in cm deines Fernsehers multiplizieren kannst, um auf den idealen Sitzabstand zu kommen. Die Berechnung mit Faktor ist wesentlich einfacher und erspart dir die ganze Mathematik von oben. Deshalb habe ich die Faktoren für dich unten aufgelistet.

Blickwinkel Full HDFaktor Full HDBlickwinkel Ultra HDFaktor Ultra HD
Handel20 Grad2.530 Grad1.63
SMPTE30 Grad1.6330 Grad1.63
THX40 Grad1.240 Grad1.2

Warum SMPTE und THX nicht zwischen Full HD und Ultra HD unterscheiden, ist mir übrigens höchst schleierhaft. Bis jetzt habe ich von ihnen kein Statement zum Thema gekriegt. Vielleicht weisst du ja mehr darüber. Ich tippe auf ihre Nähe zur Kinobranche: Weil 4K dort noch nicht wirklich verbreitet ist, haben sie es vorerst nicht für nötig befunden, einen offiziellen Standard fürs Heimkino – also UHD – zu definieren. Das, oder sie verpennen mit Vorsatz.

Die Wissenschaft hinter der Mathematik: Wer hat Recht?

Habe ich auf der Suche nach dem TV-Guru-Gott die eine goldige Formel, die mir sagt, wie weit ich von meiner Glotze zu sitzen habe, gefunden?

Nein, nicht wirklich. Aber ich bin der Wahrheit etwas näher gekommen. So weiss ich jetzt, dass der minimale Sitzabstand – der Abstand, ab dem einzelne Pixel fürs Auge sichtbar werden – nicht dasselbe ist wie der subjektiv empfundene ideale Sitzabstand: Nur, weil ich einen Meter von meiner UHD-Glotze sitzen könnte, ohne einzelne Pixel voneinander unterscheiden zu können, heisst es nicht, dass ich es sollte. Etwas, das einigen Ratgebern da draussen abhanden geht.

Was letztere nämlich oft vergessen, ist, dass wir von einer Wissenschaft im Mikro- und Makrometerbereich, von Lichtwellen und von Abständen in Bogenminutendas reden: Das menschliche Auge besitzt zwischen 100 und 130 Millionen Rezeptoren, welche die Auflösung des Umfeldes bestimmen. Die Rezeptoren teilen sich in Stäbchen – für die Sicht bei Dämmerung und Nacht –, und Zapfen auf, die ähnlich wie Subpixel in einem Pixel für die Wahrnehmung der Farben Blau, Grün und Rot zuständig sind.

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Das ist derart komplex, dass sich selbst Biologen, Physiker und Ingenieure uneinig sind, wie Dinge wie das Auflösungsvermögen des Auges korrekt zu berechnen sind. Kommt dazu, dass wir Menschen unterschiedlich sind und nicht alle gleich (gut) sehen. Wie soll unter diesen Umständen eine allgemeingültige Formel für den idealen Sitzabstand möglich sein?

Die Antwort: Es ist unmöglich. Die allgemeingültige Wahrheit – wenn es denn so eine gibt –, ist, je nach Experten, den du fragst, immer wieder eine andere. Fast ein bisschen so, als ob aus Wissenschaft Religion würde. Mit Formeln wie oben lassen sich daher bestenfalls Richtlinien ableiten – aber nie allgemeingültige Regeln, die auf jeden zutreffen.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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