

Smartphones mit Bokeh-Effekt: Revolution oder Spielerei?

Immer mehr Smartphones können Fotos mit unscharfem Hintergrund machen. Wie schneidet die Funktion im Vergleich mit dem «echten» Bokeh von grossen Kameras ab? Nicht besonders gut. Das heisst aber nicht, dass sie nutzlos wäre.
Smartphones übernehmen immer mehr Funktionen, die früher ausschliesslich «richtige» Kameras boten. RAW, Bildstabilisator, oder gerade neulich beim Samsung Galaxy S9 die mechanische Blende. Am meisten Aufsehen hat aber in den letzten Jahren der künstliche Bokeh-Effekt erregt. Damit wird es auch auf Smartphones möglich, den Hintergrund eines Bilds verschwimmen zu lassen.
Für die, die nicht so mit Fotografie bewandert sind, erkläre ich hier mal, was es damit genau auf sich hat. Und ich vergleiche den Effekt mit dem echten Bokeh-Effekt, wie er «natürlicherweise» unter bestimmten optischen Bedingungen entsteht.
Die Schärfentiefe
Ganz ohne Theoriewissen geht es nicht. Ich versuche es so kurz wie möglich zu machen. Wer es schon kennt, bitte zum nächsten Abschnitt.
Jedes Foto hat einen Fokuspunkt: das ist die Distanz, auf die scharf gestellt wird. Je nach Aufnahmesituation, Hardware und Einstellungen ist ein mehr oder weniger grosser Bereich davor und dahinter ebenfalls scharf. Dieser Bereich nennt sich Schärfentiefe oder (verwirrend) auch Tiefenschärfe. Auf die Diskussion, welches der korrektere Begriff ist, lasse ich mich nicht ein ;-). Auf Englisch nennt sich das depth of field, abgekürzt DOF.
Beim Knipsen mit einem herkömmlichen Fotoapparat hängt die Schärfentiefe von mehreren Faktoren ab, auf die du achten musst:
Bokeh ist übrigens nicht ganz dasselbe wie verschwommener Hintergrund oder geringe Schärfentiefe. Bokeh bezeichnet die Art, wie unscharfe Stellen aussehen. Das ganze ist auf Wikipedia recht gut erklärt.
Warum Smartphones kaum natürliche Schärfentiefe haben
Die meisten Smartphones haben eine Brennweite von 4 Millimetern. Mehr geht nicht, denn die Brennweite ist die Distanz von der Linse zum Fotosensor. Das Smartphone müsste daher dicker als 4 Millimeter sein oder dann müsste das Objektiv hervorstehen. Die Leute wollen aber nun mal flache Smartphones.
Wie oben erwähnt, führen kurze Brennweiten zu grosser Schärfentiefe – es ist praktisch alles auf dem Bild scharf. 4 Millimeter Brennweite ist extrem kurz. Bei Vollformatkameras hast du kaum jemals weniger als 25 Millimeter, ausser du experimentierst mit Fischaugen-Objektiven, dann geht es runter bis 8 Millimeter.
Diese 4 Millimeter sind so wenig, dass es auch nicht viel nützt, wenn das Smartphone eine grosse Blende hat (z.B. f/1.6). Der Hintergrund verschwimmt trotzdem kaum.
Die einzige Möglichkeit, mit einem Smartphone eine natürliche Hintergrundunschärfe hinzukriegen, ist ein Motiv von extrem nahe aufzunehmen. So wie hier das grosse Blatt.
Wozu überhaupt eine geringe Schärfentiefe?
Gerade bei Schnappschüssen von Personen ist der Hintergrund oft zufällig und unruhig. Er stört und lenkt vom Hauptmotiv ab. Mit einer geringen Schärfentiefe kannst du dieses Problem sehr einfach lösen. Du musst nicht darauf achten, dass der Hintergrund «ruhig» ist.
Wie der künstliche Effekt funktioniert
Smartphones, die in der Lage sind, den Hintergrund künstlich (also per Software) unscharf zu stellen, haben meistens zwei Kameras auf der gleichen Seite. Beide Kameras schiessen gleichzeitig ein Bild. Durch den Vergleich der beiden Bilder berechnet das Phone die Distanz der einzelnen Bildteile und damit auch, wie stark jeder Bildbereich unscharf gestellt werden soll.
Wie die Smartphone-Hersteller das genau anstellen, wissen wir nicht. Aber das ganze funktioniert ähnlich wie unsere Augen. Wir haben zwei davon, damit wir räumlich sehen können. Dadurch, dass beide Augen dasselbe aus einem leicht anderen Winkel betrachten, kann unser Hirn sozusagen die Distanzen berechnen.
Wie nahe kommt der künstliche Effekt an einen echten heran?
Die Qualität des Effekts hängt natürlich vom Smartphone ab. Ein detaillierter Vergleich aller Smartphones hätte den Rahmen dieses Beitrags gesprengt. Ich habe mir den Effekt beim Huawei Mate 10 Pro mal genauer angesehen. Dieses Smartphone hat zwei Leica-Objektive mit Lichtstärke 1/1,6. Auch ein optischer Bildstabilisator ist dabei. Die Foto-Hardware ist also vom Feinsten.
Die Software scheint da nicht ganz mitzuhalten. Es ist die gleiche, die auch in anderen Huawei- und Honor-Geräten zum Einsatz kommt. Schauen wir uns mal dieses Bild an:
Hier der obere Bildteil leicht vergrössert.
Mir fallen folgende Dinge auf:
Im Bereich des Teppichs findet zudem kein fliessender Übergang von scharf zu unscharf statt.
Zum Vergleich: So sieht es aus, wenn ich die Gitarre mit einer Spiegelreflexkamera und offener Blende ablichte.
Weitwinkel mit Bokeh: eine unnatürliche Kombination
Dir ist wohl aufgefallen, dass die Gitarre mit Smartphone und SLR zwar ungefähr gleich gross abgebildet ist, aber dennoch anders aussieht. Der Blickwinkel auf das Instrument ist anders, der Hintergrund ebenfalls. Es wäre natürlich für einen Direktvergleich wünschenswert, exakt dasselbe Foto einmal mit dem Smartphone und einmal mit der Spiegelreflex-Kamera aufzunehmen. Das ist aber gar nicht so einfach.
Warum? Smartphones haben, wie eingangs erwähnt, in der Regel einen Weitwinkel-Bildausschnitt. Im Fall des Huawei Mate 10 Pro entspricht der Bildausschnitt einem 27mm-Objektiv im Vollformat. Bei APS-C wäre das ein Objektiv mit Brennweite 18 mm.
Wenn ich ein Weitwinkelobjektiv an die Spiegelreflexkamera anschraube, habe ich zwar den gleichen Bildaufbau, aber ich kann damit kein Bokeh erzeugen. Wie erwähnt, ist im Weitwinkel auch bei grossen Kameras kaum ein Bokeh-Effekt möglich. Für meine Bokeh-Vergleichsaufnahmen nehme ich daher ein hundsgewöhnliches 50mm-Objektiv mit Blende f/1.8.
Mit dem Smartphone so:
Der künstliche Bokeh-Effekt ist hier ziemlich in die Hosen gegangen, am deutlichsten zu erkennen bei den roten Stabspitzen am linken und rechten Bildrand. Aber darum geht es mir jetzt gar nicht. Mir geht es um die Geometrie.
- Die hinteren Stäbchen sind beim Smartphone-Bild viel weiter in der Mitte
- Sie sind proportional viel kleiner
- Die Tischkante unten rechts hat einen komplett anderen Winkel
- Auf dem Smartphone-Bild ist viel mehr Raum im Hintergrund zu sehen, weil alles weit Entfernte kleiner ist
Kurz: Das Bild sieht komplett anders aus, wenn die gleiche Bildvergrösserung mit einer anderen Brennweite eingefangen wird.
Eine Aufnahme mit «echtem» Bokeh ist so gut wie nie mit einem Weitwinkelobjektiv gemacht worden. Da Weitwinkelobjektive eine sehr eigene Geometrie haben, sind sie leicht von anderen Bildern zu unterscheiden. Somit erkenne ich nur schon aufgrund der Kombination Weitwinkel plus Bokeh, dass der Effekt künstlich ist – selbst wenn der Effekt an und für sich fehlerlos nachgebildet wäre (was er längst noch nicht ist).
Und auch wenn dein Auge nicht fotografisch geschult ist, merkst du irgendwie, dass «irgendwas nicht stimmt». Unbewusst nimmst du wahr, dass etwas nicht zusammen passt. Du kannst nur nicht genau sagen, was.
Übrigens lässt sich dieses Problem nicht beheben, indem du am Smartphone reinzoomst. Das ist nur ein digitales Zoom und hat keine Auswirkungen auf die Anordnung der Objekte auf dem Bild. Ganz wenige Smartphones haben neben der Weitwinkelkamera eine Zweitkamera mit anderem Bildausschnitt. Dies ist dann ein optischer Zoom, kein Digitalzoom, und führt zu einem Bildaufbau, zu dem das Bokeh passt. Zu diesen Ausnahmen gehören die iPhones mit Dual Cam und das Razer Phone.
Videos mit künstlichem Bokeh-Effekt
Fazit: Close, but no cigar
Der Bokeh-Effekt bei Smartphones ist im Prinzip ein nützliches Mittel zur Bildgestaltung. Das Bild wird ruhiger und die Aufmerksamkeit des Betrachters konzentriert sich auf das Wesentliche.
Der Effekt ist aber nicht mit einem echten Bokeh vergleichbar. Zum einen, weil die Distanzberechnung offenbar recht unzuverlässig ist und die Software in der Folge Bildfehler erzeugt. Zum anderen, weil Smartphones in der Regel Weitwinkelobjektive haben, was sie für Bokeh-Porträts eh ziemlich ungeeignet macht.
Smartphones mit Bokeh-Funktion (Auswahl)
Bokeh-Monster: Lichtstarke Objektive mit ordentlich Brennweite (Beispiele)


Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
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