
Meinung
Eine letzte Frage an «Squid Game 3»
von Luca Fontana
Millionen streamen gerade «Monster: The Ed Gein Story» – und sehen einem Mann beim Wahnsinn zu. Doch das wirklich Verstörende ist nicht, was auf dem Bildschirm passiert, sondern was es in uns auslöst.
Wisconsin, 1957. In der Scheune eines wortkargen Farmers findet die Polizei etwas, das selbst erfahrene Ermittler verstummen lässt: geköpfte Körper, ausgeweidet wie Wild. Westen aus Haut – mit Brustwarzen. Schüsseln aus Schädeln. Masken aus echten Gesichtern. Auf dem Herd: köchelnde Innereien.
Der Name des Farmers: Ed Gein.
Was er in den Jahren zuvor getan hatte, überstieg jede Vorstellungskraft. Er plünderte Gräber, präparierte Leichenteile und bastelte Möbel, Lampenschirme und ganze Kostüme aus Körpern. Später tötete er auch Menschen; zwei Morde konnte man ihm nachweisen. Vermutlich waren’s mehr. Mehr Gräueltaten, die ihn zu einer der berüchtigtsten Figuren der amerikanischen Kriminalgeschichte machten.
Während ich angewidert die Miene verziehe und mir die Bilder noch Minuten später im Nacken sitzen, kann ich nicht anders: Bei jedem Abspann drücke ich auf «Nächste Folge» und beobachte gebannt das pure Grauen.
Warum tue ich mir das an?
Warum tun wir uns das an?
Vielleicht liegt die Verstörung gar nicht im «Was» wir sehen, sondern im «Wie» wir es sehen. Serien wie «Monsters» inszenieren das Böse nämlich nicht nur aus der Ferne. Sie rücken so nah heran, dass wir fast seinen Atem spüren.
In der Netflix-Serie sehen wir zum Beispiel den jungen Ed Gein, wie er von seiner fanatisch-religiösen Mutter gequält wird. Wir erleben ihn als gebrochenen, einsamen Mann, der nicht versteht, was er mit der Welt – und die Welt mit ihm – anfangen soll. Und plötzlich passiert etwas, das mich mehr verunsichert als jedes blutige Detail:
Ich fühle mit.
Nicht, dass ich jetzt plötzlich seine Taten nachvollziehe, rechtfertige oder gar entschuldige. Aber ich beginne, den Abgrund zu begreifen – oder es zumindest zu glauben. Der Horror bekommt eine Herkunft, das Monster ein Gesicht. Und genau da beginnt die moralische Reibung.
Tja. Warum fühlen wir trotzdem mit?
Empathie, zeigen Studien aus der Psychologie, ist ambivalent: Sie kann sensibilisieren oder abstumpfen. Aufklären oder manipulieren. Gerade bei Gewalt und Psychopathie unterscheiden Studien zwischen kognitiver und emotionaler Empathie und zeigen Verschiebungen je nach Kontext und Person.
In den Händen eines begabten Regisseurs wird Empathie damit zum Werkzeug: Sie zwingt uns, wohlwollend hinzuschauen, wo wir lieber angewidert wegsehen würden. Auch das macht den Reiz von True Crime aus.
Für jene, die sich trotzdem zu solchen Geschichten hingezogen fühlen, nennt Jeglic aber mögliche Gründe: Manche suchen in True Crime nach Szenarien, in denen Opfer sich wehren – als stille Rehabilitierung eigener Ohnmachtserfahrungen. Andere könnten, so Jeglic, versuchen, frühere Traumata in einer sicheren Umgebung «noch einmal zu erleben, diesmal aber mit mehr Kontrolle».
True Crime, sagt sie, könne für einige eine Art psychologische Exposition sein: das Böse betrachten, studieren und begreifen, ohne ihm wirklich ausgeliefert zu sein – sicher vom Sofa aus.
Empathie und Kontrolle. Lässt sich alleine damit unsere Faszination für True Crime und Gewalt erklären? Showrunner Ryan Murphy jedenfalls lässt uns damit nicht so einfach davonkommen: «Ich wollte die Kamera zurück auf uns richten», sagt er weiter im Variety-Interview. «Jede Generation erschafft ihren eigenen Boogeyman – und jede muss die Gewalt steigern, weil sie mit der vorherigen längst abgestumpft ist.»
Eine steile These. Aber keine falsche.
Wenn also Millionen Menschen gebannt zusehen, wie Charlie Hunnam als Ed Gein von seinen Taten erzählt, dann geht es längst nicht mehr nur um ihn, sondern um uns. Um die Frage, warum uns das Böse auf dem Bildschirm so magisch anzieht, obwohl – oder gerade weil – es uns abstösst. Co-Creator Ian Brennan formuliert es so: «Wir erzählen nicht nur über ihn, wir zeigen uns selbst. Wir sind besessen von diesem Mann.»
Das ist der eigentliche Tabubruch dieser Serie: Auf der einen Seite sehen wir die Fratze eines Mörders, auf der anderen unsere eigene Neugier. Wir schaudern, weil wir wissen, dass wir nicht hingucken sollten, aber trotzdem wollen. So hält uns die Serie unsere eigene Faszination vor Augen, wenn Ed Gein direkt in die Kamera blickt und mit kindlicher Stimme zu uns spricht:
«Du bist es doch, der nicht wegsehen kann.»
Ich glaube nicht, dass wir solche Serien schauen, um Monster zu sehen. Wir schauen sie, um uns selbst zu vergewissern, dass wir keine sind. Dass wir das Böse erkennen würden, wenn es uns begegnet. Dass wir niemals so verloren gehen könnten wie jene, die wir auf dem Bildschirm verurteilen. Und doch sind genau diese Serien der Beweis, dass uns das Böse fasziniert, solange wir ihm aus sicherer Distanz begegnen dürfen.
Solange die Abgründe, die wir sehen, nicht die unseren sind.
Was bleibt, ist dieses ambivalente Gefühl: Ekel und Empathie, Furcht und Faszination. Untrennbar miteinander verknüpft. Genau darin liegt die Wahrheit solcher Geschichten: Sie konfrontieren uns nicht mit dem, was Ed Gein getan hat, sondern mit dem, wozu wir selbst fähig wären, wenn die Grenzen zwischen Schmerz, Macht und Menschlichkeit einmal verschwimmen.
Ich jedenfalls werde wohl weiter in den Abgrund blicken – bis ich mich unweigerlich der unbequemsten aller Fragen stellen muss: Braucht es diese Serien wirklich, um zu verstehen, was Menschen zu Monstern macht? Oder brauchen sie eigentlich eher uns, das Publikum, um ihre Existenz erst zu legitimieren?
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Ich schreibe über Technik, als wäre sie Kino, und über Filme, als wären sie Realität. Zwischen Bits und Blockbustern suche ich die Geschichten, die Emotionen wecken, nicht nur Klicks. Und ja – manchmal höre ich Filmmusik lauter, als mir guttut.
Hier liest du eine subjektive Meinung der Redaktion. Sie entspricht nicht zwingend der Haltung des Unternehmens.
Alle anzeigenVerurteilt wurde Gein zwar, hingerichtet aber nie. Den Rest seines Lebens verbrachte er wegen Unzurechnungsfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik. Doch sein Schatten blieb. Er inspirierte Horror-Ikonen wie «Psycho», «The Texas Chainsaw Massacre» und «The Silence of the Lambs». Heute, fast 70 Jahre später, erzählt Netflix die Geschichte von Neuem, und Millionen sehen zu – auch ich.
Schauspieler Charlie Hunnam, der Gein in der Netflix-Serie verkörpert, beschrieb diesen Drahtseilakt kürzlich so: Er habe «den Menschen» in Gein finden wollen, ohne dessen Taten zu verharmlosen. Anfangs habe er sogar «Panik» bekommen, weil er fürchtete, es gebe «kein Zurück» aus dieser Rolle. Empathie sei notwendig, um eine solche Figur zu spielen – «aber eben nicht zu viel».
In dieselbe Kerbe schlagen auch die Macher. Co-Creator Ian Brennan spricht in einem Interview mit Variety nicht von romantischer Humanisierung, sondern von einer Art wissenschaftlicher «Homo-Sapiensierung». Auch Regisseur Max Winkler setzt die Grenze klar: Ein Täter könne zwar glamourös inszeniert sein, «aber er ist und bleibt ein Monster für das, was er getan hat».
Eine andere mögliche Erklärung liefert die Psychologin Dr. Thema Bryant, ehemalige Präsidentin der American Psychological Association. Schon 2023 – also bevor Netflix die Ed-Gein-Serie veröffentlichte – sprach sie in einem Podcast über die Faszination von True Crime. «Wenn dein Weg, abends zu entspannen, darin besteht, drei Folgen ‹Law & Order› zu schauen», sagte sie, «dann frag dich, warum sich Trauma für dich beruhigend anfühlt.»
Bryants Aussage war ursprünglich ein allgemeiner Gedanke zur Popkultur und unserem Umgang mit Gewalt. Sie wurde erst zwei Jahre später von Boulevard und Social Media in direktem Zusammenhang mit «The Ed Gein Story» gebracht. Trotzdem trifft ihr Gedanke einen Nerv: Viele Menschen konsumieren Gewalt nicht trotz des Unbehagens, sondern wegen des Unbehagens.
Eine weitere psychologische Perspektive kommt von Dr. Elizabeth Jeglic, Professorin für klinische Psychologie am John Jay College of Criminal Justice. In einem Beitrag auf CrimeReads erklärte sie 2021, es gebe zwar keine wissenschaftlichen Belege, dass Überlebende sexueller Gewalt häufiger zu True-Crime-Formaten greifen. Viele würden diese Inhalte sogar meiden, weil sie retraumatisierend wirken könnten.
Tatsächlich zeigen Studien, dass sich unser Empfinden für Gewalt mit der Zeit verschiebt. Je häufiger wir Gewaltdarstellungen sehen – sei es in True Crime, Nachrichten oder Fiktion –, desto weniger intensiv reagieren wir darauf. Psychologinnen und Psychologen sprechen von Desensibilisierung: Das Gehirn gewöhnt sich an Reize, die eigentlich Alarm auslösen sollten. Eine verwandte Theorie nennt sich Kultivierung: Wer regelmässig Gewaltmedien konsumiert, überschätzt oft, wie gefährlich die reale Welt tatsächlich ist.
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