
Unser unbewusstes Gespür für Lügen

Wenn wir belogen werden, merken wir das in der Regel nicht. Der Körper hingegen reagiert auf Lügen oft anders als auf die Wahrheit. Hilft es also, wenn man die eigenen Körpersignale besonders gut wahrnimmt?
Zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, ist schwierig: Die Urteile von Laien sind in der Regel kaum besser, als wenn man eine Münze werfen würde. Aber unbewusst erahnen wir offenbar doch, was Sache ist. Denn die körperlichen Reaktionen auf Lügen und wahre Aussagen unterscheiden sich, wie eine Studie in der Fachzeitschrift «Personality and Individual Differences» zeigt – nur wissen wir diese unbewussten Zeichen nicht zu lesen.
Beteiligt war unter anderem die bekannte Lügenforscherin Leanne ten Brinke von der University of Columbia in Kanada. Sie sucht schon seit einigen Jahren nach Hinweisen darauf, dass Menschen Lüge und Wahrheit unbewusst unterscheiden können. Bereits 2019 meldete sie Erfolg und stellte ausserdem fest: Wer auf die eigenen Körpersignale zu hören lernt, lerne auch Lügen besser zu erkennen. Nun wollte sie gemeinsam mit weiteren Kollegen wissen, ob manche Menschen von Natur aus ein feines Gespür für ihren Körper haben – und damit auch für Lüge und Wahrheit.
Ein Test mit echten Lügen und hohem Einsatz
Dazu bat das Team zunächst rund 80 Studierende wiederholt um eine Einschätzung, ob eine Tonfolge dem gleichen Takt folgte wie der eigene Herzschlag. Wie gut ihnen das gelang, diente als Mass für die Genauigkeit, mit der sie die Signale aus dem eigenen Körper wahrnahmen – ihre Interozeption. Dann bekamen sie insgesamt 32 Videos vorgespielt, in denen Menschen logen oder die Wahrheit sagten. Dazu zählten zum einen Kandidaten einer Spielshow mit einem Preisgeld von 20’000 Dollar, die behaupteten, ihren Spielpartner nicht hintergehen zu wollen. Zum anderen handelte es sich um Menschen, die auf der Suche nach vermissten Angehörigen an die Öffentlichkeit appellierten, wobei die Hälfte von ihnen später für schuldig befunden wurde, die vermisste Person getötet zu haben. Während die Versuchspersonen die Videos schauten, wurden ihre Hautleitfähigkeit und ihre Gefässweite gemessen.
Danach sollten sie ein Urteil abgeben: Wer hatte gelogen, wer die Wahrheit gesagt? Wer einfach nur geraten hätte, hätte zu 50 Prozent richtiggelegen. Die Versuchspersonen kamen im Mittel aber auf rund 55 Prozent, eine Erfolgsquote, die ziemlich genau der von älteren Studien entspricht. Eine erhöhte Hautleitfähigkeit angesichts von Lügen war zwar nicht nachweisbar, die Gefässe verengten sich bei Lügen allerdings stärker als bei wahren Äusserungen. Hätten sie diese Reaktion bemerkt und ihr Urteil darauf gestützt, hätten die Versuchspersonen rund 68 Prozent der Fälle richtig erkannt.
Doch das gelang offenbar nicht. Auch die Versuchspersonen mit guter Interozeption lagen nicht häufiger richtig. Und das, obwohl sich bei ihnen die Gefässweite angesichts von Lüge und Wahrheit sogar stärker unterschied: Menschen, die auf emotionale Reize physiologisch stärker reagieren, spüren ihren Körper genauer. Weil sie Lügen bewusst dennoch nicht besser erkennen, sind offenbar noch andere Einflüsse am Urteil beteiligt, vermutet die Gruppe.
Die unbewusste Wahrnehmung könne sich aber anderweitig äussern, wie ein Team um ten Brinke 2021 berichtete. Demnach reagierten Versuchspersonen beim Anblick von echter Trauer mit mehr Mitgefühl als bei gespielter Trauer. Als Kennzeichen machte die Gruppe Merkmale von Trauer in der Mimik aus, die schwer vorzutäuschen seien.
Die Befunde von ten Brinke und ihren Kolleginnen und Kollegen stehen im Widerspruch zu anderen Befunden der Lügenforschung. Diese halten es für einen Irrglauben, dass sich Lügen merklich und systematisch im nonverbalen Verhalten niederschlagen – derartige Hinweise seien in der Regel nur sehr schwach und unzuverlässig.
Spektrum der Wissenschaft
Wir sind Partner von Spektrum der Wissenschaft und möchten dir fundierte Informationen besser zugänglich machen. Folge Spektrum der Wissenschaft, falls dir die Artikel gefallen.
Titelbild: © Motortion / Getty Images / iStock (Ausschnitt). Manchmal sagt einem das Bauchgefühl, dass der Gesprächspartner etwas zu verbergen hat. (Symbolbild)


Experten aus Wissenschaft und Forschung berichten über die aktuellen Erkenntnisse ihrer Fachgebiete – kompetent, authentisch und verständlich.