Ratgeber

Verzögern oder draufhauen? Welche Penalty-Strategie mehr Erfolg verspricht

Held hier, Versager dort – selten sind die Rollen an der Fussball-EM so klar verteilt wie im Penaltyschiessen. Dabei sind die Voraussetzungen für Goalie und Schützen umgekehrt wie bei Westernhelden: Wer zuerst zuckt, verliert.

Es wurde als Glückssache verschrien, als unfair gegeisselt und ist doch ein Höhepunkt jedes Turniers: das Penaltyschiessen. Wenn abgekämpfte Spieler zum finalen Schuss antreten, steigt der Puls. Dann finden wahrscheinlich sogar Amerikaner Fussball gut. Denn dieses Duell zwischen Schütze und Goalie ist ein echtes Drama. Einer wird verlieren. Wobei der Torwart die schlechteren Karten aber weniger Druck hat. Statistisch gesehen sollte er jeden vierten Schuss halten oder den Schützen kraft seiner Aura zum Fehlschuss zwingen. Zumindest, wenn man die bisherigen Elfmeter-Entscheidungen an Welt- und Europameisterschaften als Massstab nimmt. Das kam 41-mal vor und exakt 73,2 Prozent der 395 Schüsse waren drin.

Mich interessieren solche Statistiken, obwohl ich genau weiss, dass ich deshalb noch längst nichts weiss. Ich sitze vor dem Fernseher und denke: «Der ist nervös! Der verschiesst» – und der Ball landet im Winkel. Oder die Überzeugung, dass Cristiano Ronaldo eigentlich immer trifft, endet mit einem kapitalen Fehlschuss. England verliert stets vom Punkt? Pah, ausgerechnet unter Trainer Gareth Southgate klappt's! Obwohl den sein eigener Fehlschuss im Halbfinal der EM 1996 bis heute verfolgt.

Es gibt im Fussball keine Gewissheiten. Genau deshalb klammern sich alle an die nackten Fakten und versuchen, das Unplanbare zu planen. Welche Strategie im Penaltyschiessen für die Protagonisten besonders erfolgversprechend ist, steht in der Zeitschrift Frontiers in Psychology. Das passt, denn natürlich wissen wir: Kicken können die Spieler alle, Penaltyschiessen ist Kopfsache. Das macht diese relativ einfache Aufgabe so schwer. Sie ist eine Frage von Entscheidungen, und zwar den richtigen. Die Hauptdarsteller, in diesem Moment der Mittelpunkt des Fussballuniversums, bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Raum und Zeit. Beziehungsweise räumlichem und zeitlichem Verhalten, wie es verwissenschaftlicht heisst. Sie können sich für eine Ecke entscheiden. Und sie können auf Zeit spielen. Verzögern, bis der Kontrahent zuckt. Doch was ist erfolgversprechender?

Strategie 1: Knallhart nach Plan

Schiesst der Schütze hart und platziert, hat der Goalie nur eine Chance, wenn er sich frühzeitig für eine Ecke entscheidet. Schliesslich dauert es dann weniger als eine halbe Sekunde, bis der Ball einschlägt. Das ist zu wenig Zeit, um zu reagieren. In ihrem Verhalten haben die Goalies im Penaltyschiessen eine klare Präferenz. Bei zwei von drei Schüssen reagieren sie spät, womit bei oben genannter Untersuchung maximal die Wimpernschlaglänge von 0,16 Sekunden vor dem Schuss gemeint ist. Das ist ungefähr der Moment, in dem der Schütze sein Standbein aufsetzt. Sie hoffen auf einen schlecht platzierten Ball. Oder darauf, dass der Spieler ihre Reaktion abwarten will. Die wenigsten Schützen trauen sich das. Drei von vier nehmen ihr Herz in die Hand, visieren eine Ecke an und hoffen, dass es gut geht. Meistens tut es das, wenn der Goalie zögert.

Trefferquote, wenn der Goalie spät reagiert: knapp 80 Prozent

Nur bei jedem dritten Penalty entscheidet sich der Goalie «früh» für eine Ecke, wobei damit mindestens 0,2 Sekunden vor dem Schuss gemeint sind. Eine zu frühe Reaktion lädt den Schützen zum Einschieben ein, aber das wagt ja nur jeder vierte. Die anderen drei ziehen ihren vorher gefassten Plan durch und hauen drauf. Zielen die Schützen aufs obere Drittel des Tores, kann der Torhüter fast nur auf einen Fehlschuss hoffen. Trauen sie sich das nicht, ist der früh reagierende Goalie im Spiel.

Trefferquote, wenn der Goalie früh reagiert: 60 Prozent

Strategie 2: Verzögern statt draufhauen

Langsam anlaufen, verzögern, bis der Goalie zuckt und locker einschieben. Das kann absolut lässig und sicher wirken oder grandios in die Hose gehen. Wer so etwas wagt, hat auf jeden Fall Selbstbewusstsein. Er sucht das Duell, statt den Kontrahenten auszublenden. Verschiedene Merkmale verraten, welche Strategie der Schütze verfolgt: Wie lange schaut er auf den Torhüter, wie flüssig läuft er an. Wer auf den Goalie achtet, schiesst eher mit der Innenseite. Und hat häufiger Erfolg. Vor allem, wenn sich der Torhüter früh für eine Ecke entscheidet.

Trefferquote, wenn der Goalie früh reagiert: knapp 82 Prozent

Kritisch wird es dagegen, wenn der Goalie den Plan erahnt und selbst lange wartet. Dann besteht akute Blamage-Gefahr für den Schützen. Trotzdem stehen seine Erfolgschancen gar nicht mal so schlecht.

Trefferquote, wenn der Goalie spät reagiert: knapp 64 Prozent

Alles klar? Natürlich nicht!

Wer als Schütze in der Lage ist, trotz des Drucks noch spontane Entscheidungen zu treffen, schneidet statistisch gesehen also etwas besser ab. Dabei treiben die «Schieber» den Fan-Puls besonders nach oben. Scheitern sie, dann scheitern sie kläglich. Ein beherzter Vollspannschuss neben das Tor wird schon eher verziehen, obwohl das Vorgehen vergleichsweise kopflos ist.

Auf die Ruhe kommt es an. Wahrscheinlich hat sich kaum jemand so intensiv mit dem Penalty-Thema auseinandergesetzt wie der Sportwissenschaftler Geir Jordet aus Oslo. Er stellt unter anderem fest, dass die Gelassenheit bei der Ausführung messbare Erfolge bringt. Legt sich der Schütze den Ball sorgfältig zurecht und braucht länger als eine Sekunde dafür, trifft er zu 80 Prozent. Wer es eiliger hat, nur zu 58 Prozent. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich nach dem Pfiff des Schiedsrichters. Wer Schiss hat, schiesst sofort und trifft seltener. Wer cool bleibt, lässt sich Zeit.

Geht der Ball ins Netz, ist ausgelassener Jubel empfehlenswert: Spieler, die sich nach ihrem Treffer ordentlich freuen, statt erleichtert zurückzuschleichen, gehen am Ende mit einer Wahrscheinlichkeit von 82 Prozent als Sieger vom Platz. Im Idealfall durch einen krönenden Abschluss. Gleich das erste Penaltyschiessen an einer Europameisterschaft wurde 1976 so frech entschieden, dass der lockere Lupfer in die Tormitte bis heute mit dem Namen des Schützen verbunden ist. Der «Panenka» ist eine Variante, an die sich höchstens die grossen Spieler trauen. So wie Andrea Pirlo 2012.

Bei ihm war es das grössere Wunder, dass er auf diese Weise verwandelt hat. Denn angeblich wusste Pirlo noch nicht einmal beim Anlauf, was er gleich tun würde. Und Panenkas Original hatte einen statistischen Vorteil: Wenn ein Treffer den Sieg bedeuten kann, steigt die Erfolgsquote auf über 90 Prozent. Das ist einerseits spannend, andererseits völlig egal. Denn ich weiss zu 100 Prozent: Auch an dieser EM kommt im Penaltyschiessen alles anders als gedacht.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.

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