«A moment of magic in John Henderson's bedroom!»
Hintergrund

«A moment of magic in John Henderson's bedroom!»

Während die Sportwelt still steht, ist Darts das Spiel der Stunde. Die Pfeilewerfer duellieren sich aus ihren Schlafzimmern oder Kellern auf der PDC Home Tour. Ein Turnier, bei dem Slow-TV mit Big Brother verschmilzt.

Am Anfang ist alles Matsch. Aus dem Pixelbrei, der ein Stream sein sollte, grüsst Dan Dawson. Der Kommentator sitzt zuhause in Birmingham. Das Logo des Sponsors schwebt wie eine Krone über seinem Kopf, der von zwei Dartscheiben eingerahmt wird. Der Mann hat es sich in seinem Provisorium gemütlich gemacht. Es ist Tag 17 der PDC Home Tour, die vom Charme des Authentischen lebt. An Tag 1 startete der Stream so früh, dass Weltmeister Peter Wright noch mit dem Entkorken seiner Weinflasche beschäftigt war.

Preisgelder gibt es nicht. Trotzdem sind Profi-Spieler dabei, die aus aller Welt zugeschaltet werden. Statt sich auf der Bühne direkt mit ihrem Kontrahenten zu duellieren, zielen sie alleine auf ihre Trainingsscheibe. Im Split-Screen ist zu sehen, wo die Pfeile landen. Mal besser, mal schlechter. Je nach Webcam.

Dan Dawson, wie ich ihn kennengelernt habe.
Dan Dawson, wie ich ihn kennengelernt habe.

Jeden Abend wirft eine Vierergruppe den Sieger aus, der sich für die nächste Runde qualifiziert. Das geht noch gut zwei Wochen lang so weiter, bis der Turniersieger feststeht. Mancher Favorit tut sich mit der ungewohnten Situation schwer, Aussenseiter trumpfen auf. Im eigenen Schlafzimmer, im Keller oder in der Küche einen Wettkampf zu bestreiten, scheint eine besondere Herausforderung zu sein. Noch dazu, wenn der Gegner auf einem anderen Kontinent die Scheibe perforiert und jedes Schnaufen zu hören ist.

Zerfliessende Gesichter, fliegende Pfeile

Wenn überhaupt etwas zu hören ist. Die Auftaktinterviews mit den Spielern entgehen mir, weil passend zu den zerfliessenden Gesichtern auch der Ton hängt. Egal, die Namen Henderson, Heta, Kciuk und Blades sagen mir sowieso nichts. Ich bin kein Darts-Fan. Ausser Phil «The Power» Taylor, Michael van Gerwen und Raymond van Barneveld kenne ich keine Spieler. Ich weiss gerade noch, dass dieser Typ mit dem Irokesenschnitt Weltmeister geworden ist und eine blonde Frau die grosse Nummer der WM war, bis sie rausflog. Aber ich bin Sport-Fan und kann mich von Fussball bis Curling für fast alles begeistern. Heute gibt es aus Mangel an Alternativen eben Darts, den Big Mac unter den Sportarten. Verpönt und geliebt.

Als der Stream endlich steht, fliegen schon die ersten Pfeile. Gespielt wird «best of 9 legs». Wer fünf Durchgänge für sich entscheidet, gewinnt das Match. Die Spieler sind im Split-Screen nicht zu sehen. Eine blau umrandete Scheibe links, eine rot umrandete rechts. Der Kommentator briefmarkengross in der Mitte. Highlander gegen Unicorn. Oder so ähnlich. Nein, der «Highlander» John Henderson, von dem nur ein stämmiger Unterarm im schwarzen T-Shirt zu erkennen ist, spielt gegen Krzysztof Kciuk aus Polen. Kampfname «The Thumb».

Aaaahhh... Live-Sport!
Aaaahhh... Live-Sport!

Ich male mir die Typen zu den Stimmen und Unterarmen aus, während Henderson ein 11-Darter im zweiten Leg gelingt. Das ist gut, aber irgendwie egal. Wer sind die zwei? Henderson muss ein schottischer Wandschrank sein. Kciuks Armbanduhr würde ihm nur um den Daumen passen. Mit der Zeit geben die Spieler mehr als nur ihre Punkte durch. Sie freunden sich langsam mit dieser intimen Stream-Runde an.

Wie ein Abend im Pub

«Oooh, rubbish! 9!», stöhnt Kciuk nach einem misslungenen Versuch und darf sich einen Spruch von Kommentator Dawson anhören. Immerhin hat er die Scheibe getroffen. Henderson kontert mit 180, bevor er selbst nur 27 wirft, was er lachend hinnimmt. Es ist eher ein Abend im Pub als die grosse weite Welt des Sports. All die «echten Athleten», die derzeit ihren Marathon auf dem Balkon laufen, einen Triathlon in den eigenen vier Wänden absolvieren oder im Garten zum Stabhochsprung antreten, wirken eingesperrt. Und Geisterspiele im Fussball heissen nicht umsonst Geisterspiele. Es sind traurige Veranstaltungen.

Dagegen ist die Atmosphäre beim Dart stimmig. Eine Scheibe an der Wand in irgendeinem Keller, Gemurmel, schummrige Beleuchtung. Passt. Das ist ganz nah am Zuschauer, der mutmasslich so wie ich auf dem Sofa hängt und sich nebenher berieseln lässt. Eigentlich würden jetzt im Mai Meisterschaften entschieden, die Champions League für Pulsrasen sorgen und ganze Innenstädte im Jubelmeer der Fans versinken. Darts im Stream ist einfach nur Tock, Tock, Tock. Entschleunigend, fast meditativ. Und gelegentlich lustig.

A moment of magic in John Henderson's bedroom!
Dan Dawson kommentiert

John Henderson, den Mann mit den Popeye-Unterarmen und einem harten schottischen Akzent, stelle ich mir nicht wie Amor vor. Aber er bringt seine Pfeile im heimischen Schlafzimmer zu Beginn besser ins Ziel. Das Match wird spannend, weil Kciuk eine Aufholjagd gelingt, bevor Henderson im entscheidenden Moment die Nerven behält. Ich werde dadurch belohnt, dass ich die Athleten im Interview nach dem Duell endlich sehen kann. Henderson ist kein Armor und kein Wandschrank, sondern ein Hinkelstein. Riesig und oval. Aber nervös, zuhause zu spielen, wie er bekennt. Diese Mischung aus Homestory und Sport hat was.

Oh... hallo Hendo! Endlich lerne ich Mr. Henderson kennen.
Oh... hallo Hendo! Endlich lerne ich Mr. Henderson kennen.
Und du musst «The Thumb» sein.
Und du musst «The Thumb» sein.

«Sind die Kinder im Bett?»

Weiter geht’s mit Gary Blades aus England gegen den Australier David «The Heat» Heta, bei dem schon der neue Tag angebrochen ist. Vor dem ersten Leg gibt’s etwas Smalltalk. «Sind die Kinder im Bett?», fragt Moderator Dawson. Dann werden wieder Pfeile geworfen. Tock. Tock. Tock. Blades hat nicht mal einen Spitznamen, dafür einen strahlenden LED-Ring um die Scheibe. Ein Eyecatcher, aber der hilft ihm nicht. Der Engländer hat keine Chance und verliert mit 0:5. Nächstes Match. Ich bleibe dabei, warum auch immer. Die Pfeile fliegen, die Stunden auch.

Blades hat die geilste Scheibe, aber keine Chance.
Blades hat die geilste Scheibe, aber keine Chance.

Nimm all die Staffage weg, die Fans, die Arenen, das langgezogene Oooooonehundredandeeeeigtyyyyy! Was übrig bleibt, ist das nackte Spiel. Zwei Männer und ihre Pfeile. Ihr Geschnaufe. Tock. Tock. Tock. Unterbrochen von ein paar Sprüchen und Flüchen. Herrlich langweilig. Wie ein Abend mit guten Freunden, die mit dir abhängen, ohne dass jemand die grosse Show erwartet. Gegen 23 Uhr steht David Heta, the heat from down under, als Gruppensieger fest. Wer hätte das gedacht. Ich nicht. Und es geht immer noch weiter.

«The Heat» sieht ziemlich verschlafen aus. Trotzdem gewinnt er die Gruppe.
«The Heat» sieht ziemlich verschlafen aus. Trotzdem gewinnt er die Gruppe.

«Idiot! Aaaaah!» stöhnt Blades, der, wie ich ahne, keine Chance gegen Henderson haben wird. Als er schon hoffnungslos hinten liegt, bringen die beiden das letzte Match einfach nicht zu Ende. Sie verfehlen und fluchen, bis bei beiden noch deprimierende zwei Punkte auf dem Scoreboard stehen.

Irgendwie ist die Luft raus. Wenn Slow-TV mit Big Brother und Sport verschmilzt, kommt so etwas dabei heraus. Will ich das wirklich sehen? Anscheinend. Und offensichtlich bin ich damit nicht alleine. Schon am ersten Tag der Serie waren bis zu 347 000 Zuschauer online. Ich bin matt, aber bis zum letzten Pfeil dabei. Wenn sonst fast alles flachfällt, ist der Abend eben eine Scheibe.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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