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Hintergrund

Auf zwei Rädern, ganz bei sich

1000 Kilometer im Sattel. Ohne Plan, ohne vorgegebene Strecke. Durch Schnee, Kälte und die Nacht: die Faszination des «Unknown Race».

Noch liegt das Tal unter dem Mantel der Nacht, mein Blick gehört der Strasse, gehört den nächsten Metern, und deswegen erkenne ich sie erst im letzten Moment: die kleine Bäckerei, zwei Querstrassen von meiner Route entfernt. Golden und einladend schimmert das Licht des dazugehörigen Cafés durch die Vorhänge, fliesst hinaus in das am Fuss der Berge schlafende Dorf.

Sogleich trete ich in die Bremsen, biege ab. Ich bin mir sicher, Lars hat die Backstube auch gesehen, aber ich sehe kein Fahrrad an der Fassade lehnen, folglich ist klar, dass Lars – einmal mehr – ohne ­Pause weiterfährt. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Oder beneide ich seine grosse Disziplin?

Ich bestelle zwei Tassen Kaffee, zwei Croissants, zwei mit Käse belegte Brötchen, einen dicken Brownie – und frage die leicht irritierte Bedienung, ob sie mein Telefon aufladen könnte; ich habe, erkläre ich, um Gewicht zu sparen, nur das Kabel dabei, keinen Stecker.

Nun kommt die Bäckersfrau an den Tisch, serviert mehr Brötchen, mehr von dem ersehnten Kaffee, und ich sehe die Fragen in ihrem Gesicht, viele kleine Fragen, die sich sammeln und aufgehen wie ein Hefeteig: Sie will wissen, was uns dazu bringt, vor Tagesanbruch und mitten im April, wenn der Winter nochmals seine Kraft zeigt, unsere Renn­räder auszufahren.

Ich erkläre, dass wir an einem kleinen Rennen teilnehmen, «The Unknown Race». Vor 23 Stunden sind wir gestartet, 260 Kilometer liegen bereits hinter uns.

Die anderen beiden lachen kraftlos; die Bäckerin schaut mich weiter fragend an.

Ich schildere, dass wir tags zuvor in Wien gestartet sind, in der Früh, und nun hinüber müssen nach Slowenien. Wie es von dort weitergehe, würden wir erst an Checkpoint 2 erfahren – dies sei das Konzept des «Unknown» –, klar sei nur, dass wir am Abend des vierten Tages, nach ungefähr tausend Kilometern, zurück in Wien sein müssen, denn dort gebe es ein Bier und eine kleine Party.

Die Bäckerin hält mich offenbar für einen Scherzkeks; auffordernd blickt sie zu den beiden anderen Fahrern. Die korrigieren meine Schilderung nicht, sondern beissen in ihre Brötchen, als hätten sie zwei Tage nichts gegessen.

Nach der nächsten Serpentine erkenne ich, einen Radfahrer in der Abfahrt. Ich frage mich, wer zu dieser Tageszeit bei diesen Bedingungen auf die Idee kommt, eine Radtour zu. Dazu noch über den Triebener Tauern, einen Pass, der heute, auf 1300 Metern liegend, Schnee erhal- ten wird. Als der Fahrer näherkommt, bremst er ab, kommt auf mich zu. Natürlich: Auch er gehört zu dem Rennen, aber er sieht nicht ­besonders glücklich aus.

Ich fürchte, er werde mir gleich erzählen, der Pass sei zugeschneit.

Er könne nicht mehr schalten, erklärt er, sein Rad sei quasi eingefroren, und ein Teil des Bremsschalthebels sei abgebrochen; er könne so nicht weiter am Rennen teilnehmen.

Nichts von alldem geschah, und ich gewöhnte mich daran: Der elegante Lars drückt geschmeidig und ohne sichtbare Anstrengung in die Pedale – knarzend und ächzend, als hätte es nichts mit seinem Fahrer zu tun, quält sich unter ihm sein Rad.

Es dauerte nicht lange, und der Schnee bildete eine dünne, aber solide Decke auf der schlanken Bergstrasse. Meine Reifen verloren den letzten Halt, ich musste absteigen und schieben. Ich sah mich bereits bis nach Mitternacht zu diesem lächerlichen Checkpoint hochstapfen. Aber irgendwann wurde die Strasse etwas flacher, dicht stehende Bäume fingen viel Schnee auf, ich konnte wieder fahren.

Schneefall, schwankende Lichter, der still den Winter erduldende Wald, das Bemühen, den eigenen Körper davon zu überzeugen, trotz allem auch Finger und Füsse warm zu halten, dazu ein paar von Atemzügen unterbrochene Sätze, kleine, an der Anstrengung vorbeigeschmuggelte Worte von fremden Menschen, denen ich mich nach drei gemeinsamen Kurbelumdrehungen bereits freundschaftlich verbunden fühlte.

Der Checkpoint? Nichts als ein einsames, von einer Folie geschütztes Blatt Papier, unscheinbar an einem Pfosten hängend. Darauf notiert: zwei lange Zahlen, die Koordinaten des nächsten Checkpoints. Lars holte flink sein Telefon hervor und fotografierte die Zahlen; ich wollte es ihm gleichtun, bekam aber die kalten Hände nicht aus den Handschuhen. Der Wohltemperierte? Notierte sich die Koordinaten mit einem Stift – sein Telefon war erfroren.

Der Checkpoint war geschafft, aber das Schwierigste stand bevor: die Abfahrt im Schnee. Nur wenige Dinge sind anstrengender als die Anstrengung, die nötig ist, um in einer solchen Abfahrt unangestrengt zu bleiben. Aber locker bleiben – in der Hüfte, im Rücken, vor allem aber in den Schultern, Armen, Handgelenken – ist die einzige Chance, eine Situation, in der ein Sturz deutlich wahrscheinlicher ist als die Weiterfahrt, überhaupt handhaben zu können.

Irgendwann, ungefähr in der Mitte der Abfahrt, begann ich derart zu zittern am ganzen Leib, dass die Vibration auf den Lenker, auf die ganze vordere Hälfte meines Rennrades überging. Was den Versuch, in den eine minimale Stabilität versprechenden Spuren zu bleiben, nicht einfacher machte.

Wie durch ein kleines Wunder, so schien es mir nach 236 Kilometern und 2800 Höhenmetern, blieben auch Lars und der Wohltemperierte sturzfrei. Als wir, unten in Liezen ankommend, die zahllosen Rennräder entdeckten, die an der Fassade einer Pizzeria lehnten, gab es kein Zögern.

Ich sah meine Finger, fühlte sie aber nicht; Lars half mir, den Helm und die Handschuhe auszuziehen. Mein Unterkiefer war so kalt, dass er beim Sprechen nicht mit der noch warmen Zunge mithalten konnte – so gut es eben ging, bestellte ich zwei Portionen Pommes.

Im normalen Leben nehme ich mich meist als einen ruhigen, konfliktscheuen Menschen wahr. Aber normal war gerade wenig; am liebsten hätte ich den Mann durch eine Käsereibe geraffelt: Ich wollte nicht plaudern, ich wollte ein warmes Zimmer und eine warme Dusche!

Immerhin, es waren noch Zimmer frei, sie waren erschwinglich, und das Hotel erschien mir, soweit ich mich urteilsfähig fühlen durft­e, schmuddelig genug, um ein dreckstarrendes Rennvelo mit ins Innere zu nehmen.

Zurück in der Pizzeria schob ich mit sich vage an ihren Tastsinn erinnernden Fingern einige Pommes zwischen die kalten Lippen, gedanklich befand ich mich bereits unter der Dusche.

Der Wohltemperierte biss gerade ins letzte Segment seiner Pizza, blickte vergnügt über die Tischpfützen hinweg und sagte, er habe noch Bock, weiterzufahren, irgendwie sei ihm überhaupt nicht kalt.

Ich erlitt, so gut das noch ging, einen kleinen Lachanfall, bezahlte die Pommes und rollte, Lars im Schlepptau, zurück zum Hotel.

So ungefähr hatte sich mir der erste Tag dieses Rennens gezeigt, und unter der tatsächlich phantastisch warmen Dusche habe ich still für mich und doch derart laut gejubelt, dass es die Götter Griechenlands gewiss haben hören können.

Nicht besonders gut ist wahrscheinlich meine Gesamtsituation: Es ist Mitte April, überall in den Alpen wird Schnee erwartet, und ungeachtet der Tatsache, dass ich Müssigkeiten zelebrierend in den schönsten Cafés Wiens sitzen könnte, arbeite ich mich sehr freiwillig mit einem bepackten Rennrad eine schneeumwehte, jetzt noch unabsehbar lange Passstrasse hoch.

Ich beginne mit der Abfahrt, schalte in einen grossen Gang, Fünfzig-Dreizehn, bin froh um meine Sonnenbrille, die mir die Flocken aus den Augen hält, und um ihr Einfrieren und Ersterben zu verhindern, ziehe ich alle zwanzig Sekunden an der Vorderbremse; lieber langsam auf der Strasse als schnell in der Schlucht.

Irgendwo am Fuss des Passes, ich rolle mit 42 km/h und will den Schwung nutzen, sehe ich sechs, sieben Rennräder an der Fassade eines Gasthauses lehnen – hat Lars also doch bemerkt, dass es nicht besonders riskant ist, hin und wieder etwas zu essen?

Ich grüsse und frage, ob er gut klarkomme mit der Kälte.

Strahlend sagt er: «I love being cold!»

Nur ein Brite kann so etwas in einer solchen Situation sagen, denke ich. Anders lässt sich mir der unübertreffliche Humor, der mir hier auf einem Brompton-Faltrad begegnet, nicht erklären.

Aber er hat viel Lob für sein Gefährt übrig: Gerade jetzt seien nur drei von sechs Gängen eingefroren.

Ich lerne: Wenn du glaubst, etwas total Verrücktes zu tun, wirst du jene kennenlernen, die wirklich spinnen.

Wahrscheinlich bringe ich deutlich weniger Kraft in die Pedale als er, aber Aerodynamik ist unbestechlich, und bald fällt der Bromptonière hinter mich zurück.

Ein Lokal namens Kebab Istanbul in Sankt Veit an der Glan verleiht meinem Magen ein neues Leben; eine grosse Falafel, ein halber Liter Cola – und mein Blick auf die Welt hat wieder Boden unter den Reifen. Sogleich fühle ich mich besser.

Mein Navi schickt mich durch ein von Autos zerfahrenes Klagenfurt und rasch hinauf in den nächsten Anstieg; es ist der nach Slowenien hinüberführende Loiblpass. Weit und breit entdecke ich keinen Lars, keine anderen Fahrerinnen und Fahrer. Ist das Rennen vom Veranstalter wegen vereister Strassen abgesagt worden? Habe ich die Koordinaten falsch in die App getippt? Ich fühle mich fit, meine Mikroben feiern; ich will fahren, nicht zweifeln.

In der Mitte des Nachmittags, die rasante Abfahrt hinunter ins slowenische Bergland liegt längst hinter mir, gönne ich mir sonnenverwöhnte drei Minuten Pause an einem Waldrand. Ich trinke Schokoladenmilch, esse Kekse, hole mein Telefon hervor und lese die Nachricht einer Freundin, die mein Rennen online minuziös mitverfolgt: «Grossartig, du nimmst eine Route, die fast niemand nimmt! Aber Jana hat auch diesen Weg gewählt.»

Der Nachmittag neigt sich zum Abend und pompöse Wolken thronen über rührend kleinen Bauernhöfen, die an grünen Hängen kleben; es ist kühl, ich nippe an der Landschaft wie an einem Glas Wein.

Wir absolvieren ein Rennen, sind also, eng gesehen, Konkurrenten. Aber in einem Rennen dieser Art fährt jeder in erster Linie für sich allein, gegen sich allein; mit und gegen die Persönlichkeit, die er ist und nicht loswerden kann.

Kaum versickert die Sonne im dicht bewaldeten Horizont, schleichen kalte Winde um die Hügel. Am Fuss eines Anstiegs steige ich vom Rad, um zu essen; Lars überholt mich. Eine halbe Stunde später fahren wir Schulter an Schulter auf der verkehrslosen Bergstrasse. Wir pedalieren geschmeidig, aber unser Sprechen stockt – wir tauschen uns schweigend aus. Wir fahren nebeneinander, Lars übernimmt die rechte Hälfte der Strasse, ich die linke, das ist Kommunikation genug.

Dieses Mal kommen wir ohne Schnee oben an; wir notieren uns die Koordinaten von Checkpoint 3; er schickt uns zurück nach Österreich. Es ist fast 23 Uhr, ein kräftiger Wind schlägt uns die Kälte um die Ohren; ich blicke zu Lars, sehe seine kleinen Augen – wir entscheiden uns, in der nächsten Kleinstadt nach einem Hotel zu suchen.

Tolmin besteht aus lichtlosen Strassen, zwei mit Lärm und Bier gefüllten Bars und drei verschlossenen Hoteltüren. Eine vierte Tür öffnet sich unvermittelt – ich blicke in das Gesicht eines Rennfahrers. Hinter ihm im Flur: fünf, sechs Rennräder. Er sagt, er lasse uns gerne rein, aber der Rezeptionist sei längst weg und insgesamt nicht besonders gastfreundlich.

Lars und ich schieben unsere Räder durch die Tür, blicken in einen langen Flur; auch er wirkt nicht besonders gastfreundlich. Aber ich bin müde und bereit, auf eine Dusche zu verzichten und hinter einer staubigen Hotelpflanze aus Kunststoff meinen Schlafsack auszurollen.

Ich stelle den Timer auf fünf Stunden, erwache aber nach vier; meine Erschöpfung liegt noch im Bett, während ich bereits in die Fahrradhose steige.

Die Tür zu Lars’ Zimmer steht offen, er tritt längst in die Pedale. Gerne würde ich nun frühstücken; neben mir am Küchentisch aber steht stumm ein koffeinfreies Rennrad. Ich nicke ihm zu und trage es durchs Treppenhaus runter auf die Strasse.

Ich fliege durch Nebelfetzen und Dorfschatten; ich bin wach, ich schlafe; ich blicke aus kleinwinzigen Augen, ich sehe unheimlich gut. Ist es dieser phantastisch alte Mond, der mir sein junges Licht vor das Vorderrad legt? Ist es eine massige Kuh, deren Seufzer ich höre im taunassen Gras? Falls das mein Körper ist, der hier derart motiviert Tempo macht, wird es klug sein, wach zu bleiben.

Kann es sein, dass ich Selbstgespräche führe? Der Sprecher ist jedoch nicht identisch mit dem Zuhörer, logisch also, dass sich die beiden viel zu erzählen haben. Oben auf der Strasse zum Predilpass treffe ich auf einen Rennfahrer; er heisst Gerald und scheint interessiert an einem Gespräch – ich versuche, mein Hirn zu sortieren.

Auch Gerald ist kurz vor 5 Uhr und ohne Frühstück losgefahren, doch kennt er die Gegend sehr gut und weiss, in welchem Dorf wir auf eine Bäckerei zählen dürfen: In Bovec, sagt er, kurz bevor wir nach Italien kommen.

Als ich sage, ich wolle nicht nach Italien, sondern nach Österreich, muss Gerald eine Ahnung davon erhalten, wie frisch ich geistig noch bin.

Er klärt mich auf über lokale Geografie, über die Weltkriege, die zahllosen, grimmig in den Felsnischen hockenden Bunker. Ich bin kein guter Gesprächspartner, spüre zwar die Kälte, aber nicht mehr gut, wo ich aufhöre und wo der Rest der Welt beginnt. Mindestens eine Hirnhälfte ist restlos okkupiert mit Gedanken an eine Bäckerei.

Eine kraftvolle Morgensonne rückt die Berge ins beste Licht; der Aufstieg zum Predilpass ist ein Geschenk. Mit Gerald philosophiere ich über das Schreiben, die Einsamkeit des Langstreckenfahrens, sich unbemerkt verschiebende Wahrnehmungen und über eine Zeile aus einem Song Bob Dylans, die mir viel Kurzweil bietet, weil sie mir partout nicht in den Sinn kommen will.

Wir erreichen die Passhöhe, stehen schwer atmend in der Sonne, neben uns liegt alter Schnee, aber die Luft ist erfüllt von einem schüchternen Frühling. Ganz dünn ist sie nun, meine Haut; ich könnte jubeln und weinen zugleich.

Gerald behauptet, ich werde schneller sein in der Abfahrt; wir verabschieden uns, ich werfe mich hinein in die Schattenseite des Bergs, lege mich in die Kurven.

Knirschend zeigt mir die Kälte ihre Zähne; ich zeige sie auch, aber mit einem Lächeln.

Eine halbe Stunde später fahre ich neben Lars; er ist frühstückslos und nicht bei Kräften. Seine rechte Achillessehne schmerzt, er versucht, sie zu schonen, und bestens informiert, wie er ist, weiss er, dass die Schnellsten noch nicht das Ziel, sondern Checkpoint 4 anfahren, der offenbar in Ungarn liegt. Lars schätzt, dass damit insgesamt knapp 1200 Kilometer zu absolvieren sind.

Ich bin froh, längst nicht mehr zu wissen, wie wenige Kilometer ich bereits gefahren bin.

Ich wünsche Lars ein baldiges Frühstück, suche mein eigenes Tempo und schreibe mir leider mit strenger Stimme vor, ohne Pause bis zu meinem Mittagessen durchzufahren, bis ins Kebab Istanbul. Sankt Veit an der Glan liegt 90 Kilometer entfernt.

Bald trage ich einen Hunger unter den Rippen, eine miese Laune hinter der Stirn; dass ich mich nicht an jene Zeile Bob Dylans erinnern kann, finde ich nun überhaupt nicht mehr poetisch, nein, es geht mir der Song insgesamt auf den Keks. Hin und wieder schaue ich entnervt an den Punkt, an welchem der hintere Reifen die Strasse berührt; ich habe keinen Platten, komme aber trotzdem nicht vom Fleck.

Dreissig Kilometer vor Sankt Veit schickt mich mein Navi auf einem schlanken Radweg über eine kleine Holzbrücke. Mitten auf der Brücke, ich misstraue meinen Augen, leuchtet glänzend rot ein Apfel. Ich fahre weiter, bin nicht bereit, mich auf Märchen einzulassen, auch wenn die Gebrüder Grimm die Sache immer wieder bestrickend charmant einfädeln. Dann bremse ich abrupt, kehre um, hebe den Apfel auf. Er ist makellos.

Unsicher halte ich Ausschau nach einer aus der Hecke hüpfenden Märchenfigur, vergeblich. Dann beisse ich hinein.

Im Kebab Istanbul werde ich empfangen wie ein Stammgast; ein winziges, wohlmeinendes Lächeln wird mir geschenkt, ich hänge es mir als Ehrenmedaille um den Hals. Um einem erschöpften Mann auszuweichen, schaue ich nicht in den Spiegel, als ich mir die Hände wasche; dass ich müde bin, weiss ich auch so.

Mit einer Falafel im Bauch kann ich endlich wieder halbwegs klar denken, kann mich um meine Route kümmern. Ich verstehe: Falls das Rennen tatsächlich noch nach Ungarn geht, und falls ich die Party von Sonntagabend nicht verpassen will, sollte ich mich vielleicht doch etwas sputen.

Nach 20 Uhr bemühe ich mich, ein Gasthaus zu buchen, mir ein Bett zu organisieren in der Nähe des Checkpoints. Drei Mal ­wähle ich eine Nummer, drei Mal ist das Gasthaus voll belegt. Frustration hängt sich an mein Rad; in zwei kurzen Steigungen hänge ich sie ab.

Es fehlt der Lars an meiner Seite, aber der Mond schickt mir seine Aufmunterung; 23 Uhr 32 zeigt mein Navi, als ich vor dem kleinen Papier von Checkpoint 3 stehe, das mir zwei Zahlen nennt. Ich schaffe es, meine Handschuhe auszuziehen und die Nummer einzutippen; zeitgleich erreicht mich der Jubel meiner Schwester, die zu Hause am Bildschirm fast rund um die Uhr meinen GPS-Daten folgt und sich wohl erst schlafen legen wird, wenn ich mich schlafen gelegt haben werde.

Eigentlich müsste ich vor Müdigkeit umkippen, aber ich schicke mich in die Abfahrt, ich singe und wackle mit der Hüfte, in weichen Graustufen sausen dunkel einige Dörfer vorbei an meinen eisigen Wangen. Gerne würde ich die Menschen aus dem Schlaf holen, sie auf die Strasse zerren, um ihnen zu zeigen, wie schön die Nacht ist.

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