Der Australopithecus der PC-Evolution
Hintergrund

Der Australopithecus der PC-Evolution

David Lee
16.11.2022

Halb Schreibmaschine, halb PC: Textverarbeitungsgeräte sind faszinierende Zwischendinger. Ich habe den Brother LW-35 von 1991 ausgegraben.

Das Wort «Textverarbeitungsgerät» habe ich zum ersten Mal im Roman «1Q84» von Haruki Murakami gelesen. Der Roman spielt im Jahr 1984, und aus dem Zusammenhang schloss ich, dass es sich um einen primitiven Computer handeln musste, der auf Textverarbeitung spezialisiert war. Wie das genau funktionierte, konnte ich mir aber nicht vorstellen.

Jetzt habe ich das Textverarbeitungsgerät Brother LW-35 vor mir. Erstanden auf ricardo.ch für 50 Franken.

Von der Schreibmaschine zum Computer

Bei diesem archäologischen Fund aus den frühen 90er-Jahren handelt es sich um eine Art Bindeglied zwischen der elektrischen Schreibmaschine und dem PC. Es ist schon ein bisschen ein Computer, aber gleichzeitig ist es immer noch eine Schreibmaschine. Quasi der Australopithecus der PC-Geschichte.

In der Evolution von der Schreibmaschine zum PC gibt es verschiedene Zwischenstufen – nicht alle Textverarbeitungsgeräte sind gleich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ein Display haben. Anstatt direkt aufs Papier, kann ich den Text zunächst auf das Display schreiben. Der grösste Vorteil davon ist, dass ich Tippfehler korrigieren kann, bevor die Maschine sie aufs Papier haut.

Der Brother LW-35 kann aber weit mehr. Es lässt sich damit deutlich besser und effizienter arbeiten als mit einer gewöhnlichen Schreibmaschine.

Eine voll ausgewachsene Textverarbeitung

Der ziemlich grosse LCD kann elf Zeilen Text anzeigen. Der Zeilenumbruch geschieht automatisch. Auf dem PC ist das selbstverständlich, bei einer Schreibmaschine nicht.

Die Textverarbeitung macht auch Blocksatz möglich. Der Text ist dann links und rechts bündig. Rechtsbündig und zentriert beherrscht sie ebenfalls, dazu die Formatierungen fett und unterstrichen.

Auch mit von der Partie: Ein Spell Checker. Ich kann ihn im Nachhinein über den Text laufen lassen oder, wie im Video demonstriert, in Echtzeit. Die Maschine kann Wörter, die sie nicht kennt, im Benutzerwörterbuch speichern. Die Wörterbücher können sogar auf ein anderes Gerät geladen werden.

Die hässlichen dunklen Schlieren auf dem Bildschirm stammen von der Hintergrundbeleuchtung. Schalte ich diese aus, verschwinden sie. Der Bildschirm ist bei guten Lichtverhältnissen auch ohne Hintergrundbeleuchtung gut lesbar.

Die Suchen- und Ersetzen-Funktion dürfte vor allem bei langen Texten praktisch sein. Zudem kann der LW-35 Textstellen kopieren oder ausschneiden und einfügen. Das ist zwar umständlicher als an einem PC, aber es funktioniert. Besonders beeindruckt hat mich, dass ich zwei Files gleichzeitig anzeigen und Textstellen von einem Dokument ins andere kopieren kann. Und schliesslich lassen sich sogar häufig gebrauchte Phrasen abspeichern und mit einer Abkürzung einsetzen.

Ich zieh mir ein paar Linien

Neben der Textverarbeitung kennt die Maschine auch einen Modus zum Zeichnen von Linien. Damit lassen sich Rahmen oder Tabellengerüste erstellen und ausdrucken. Waagrechte Linien können einfach oder doppelt gezogen sein.

Kein Ausrufezeichen!!!

Die Text- und Liniendateien könnte ich auf einer Diskette speichern, wäre das Diskettenlaufwerk noch intakt. Dass es kaputt ist, höre ich an einem lauten, unschönen Geräusch beim Versuch, Daten einzulesen. Wahrscheinlich ist der Gummiriemen hinüber. Diskettenlaufwerke haben wie Kassettengeräte einen Antriebsriemen aus Gummi, und der zersetzt sich mit der Zeit.

So einen Riemen oder gleich das ganze Laufwerk zu ersetzen, wäre vermutlich keine Hexerei. Doch ich krieg nicht mal das Gehäuse auf. Da sind keine Schrauben. Mit Herummursken hatte ich bislang keinen Erfolg, nur Angst, dass ich etwas zerstöre.

Eine Restauration scheint mir den Aufwand nicht wert, denn das Gerät hat auch sonst ein paar Mängel. Es ist stark verschmutzt, dazu kommen die Schlieren der Hintergrundbeleuchtung. Und vor allem: Ich schaffe es nicht, ein Ausrufezeichen zu schreiben. Die Tastatur hat ein Schweizer Layout, daher ist bei der Ziffer 1 kein Ausrufezeichen, sondern ein Plus. Das Ausrufezeichen wäre links vom ü, aber dort sind nur die Umlautpunkte und der Accent.

Ein Drucker, den ich mag

Am Ende wird der Text rausgehauen. Den Brother LW-35 kannst du als einfachen PC mit integriertem Drucker sehen. Mit der Besonderheit, dass es ein Typenraddrucker ist. Der druckt viel schöner als die in den 80er-Jahren üblichen Nadeldrucker und ist zuverlässiger als die anfangs der 90er aufkommenden Tintenstrahldrucker. Laserdrucker gab es damals auch schon, doch das waren unbezahlbare Ungetüme – somit hatte ein Typenraddrucker durchaus seine Berechtigung.

Du hast soeben Teil 3 meiner inoffiziellen Druckerverweigerungs-Serie gelesen (Teil 1, Teil 2). Ich kann es selbst kaum glauben, aber: Dieses Gerät versöhnt mich mit dem Konzept «Drucker».

36 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar