

Ein reflektiertes Völkchen: Das sollten wir uns von Finnland abschauen
Im Herbst und Winter gilt mehr denn je: Mach dich sichtbar! Dunkel gekleidet bist du im Strassenverkehr kaum zu sehen und in Gefahr. Nicht nur auf dem Velo, auch zu Fuss. Die Menschen in Finnland machen es besser.
Es wird immer früher dunkel, in Helsinki geht die Sonne Mitte November kurz vor vier unter. Ab dann herrscht Dunkelheit. Aber in Dörfern und Städten funkelt es überall. Die Finninnen und Finnen sind nämlich das Land der Reflektoren. Selbst wer dort zu Fuss unterwegs ist, hat einen Reflektor an sich, egal ob Kinder oder Erwachsene. Viele setzen mit reflektierenden Anhängern in Form von Katzen oder Herzen ein modisches Statement. Andere tragen Armbänder aus Reflektormaterial, auf die traditionelle finnische Muster eingestickt sind.

Quelle: finnart.ch
Warum machen die Finnen etwas, was Schweizer oder Deutsche so selten tun? Während wir hierzulande im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln tappen, gibt es in Finnland eine Art Sicherheits-Kodex. Das Finish Road Safety Council bestimmt, dass sich Fussgängerinnen und Fussgänger sichtbar machen müssen. Und nicht nur Velo-Enthusiasten.
Bei Verstössen droht keine Strafe, jedenfalls existiert das Vergehen in keinem offiziellen Bussgeldkatalog. Wer will, könnte sich also unreflektiert nach draussen begeben. Finnen und Finninnen aber leben die Eigenverantwortung vorbildlich. Es ist gesellschaftlich eine Selbstverständlichkeit, Reflektoren zu tragen.
Das bestätigt mir auch Okko-Pekka Salmimies, er ist Botschafter von Finnland in der Schweiz und Liechtenstein.
Herr Salmimies, ist das Tragen eines Reflektors Teil der finnischen Kultur?
Ja, das Tragen eines Reflektors ist in Finnland tatsächlich ein Teil der Alltagskultur – vor allem in den dunklen Monaten. Da es hier im Winter sehr lange dunkel ist, legen wir großen Wert auf Sichtbarkeit im Strassenverkehr. Viele Menschen tragen kleine Reflektoren an Jacken, Taschen oder sogar an Schuhen. Es ist nicht nur praktisch, sondern auch eine Art Selbstverständlichkeit: Man findet Reflektoren in Supermärkten, Apotheken und sogar als Werbegeschenke. Manche sehen es fast wie ein Zeichen von Rücksichtnahme gegenüber Autofahrern. Es ist also weniger eine Modefrage, sondern eher ein Sicherheitsstandard, den die meisten akzeptieren und sogar kreativ gestalten. Doch ich muss auch ehrlich ergänzen, dass die Kinder sich diesbezüglich oft vorbildlicher benehmen als die Erwachsenen.
Wie lernen die Kinder, dass das wichtig ist?
Schon sehr früh – meistens im Kindergarten oder spätestens in der Schule. Es gibt spezielle Verkehrssicherheitsprogramme, bei denen Polizisten oder Verkehrsexpertinnen vorbeikommen und erklären, warum Reflektoren wichtig sind. Oft bekommen die Kinder gleich einen «coolen» Reflektor geschenkt, den sie an der Jacke oder am Rucksack befestigen können. Auch die Eltern spielen eine grosse Rolle: Sie achten darauf, dass ihre Kinder im Winter immer gut sichtbar sind. In vielen Familien gehört es einfach dazu, dass man vor dem Hinausgehen kontrolliert, ob der Reflektor dran ist – fast wie das Anziehen der Mütze.

Quelle: Finland Abroad
Gibt es eine Art soziale Kontrolle, wenn jemand den Reflektor vergisst?
Ja, ein bisschen – aber freundlich. Freunde oder Familie erinnern dich oft: «Hast du deinen Reflektor?» Es ist eher Fürsorge als Kritik, und viele Gemeinden machen Kampagnen, um daran zu erinnern.
Was denkst Du als Finne in der Schweiz, wenn du hier alle die unterbeleuchteten Leute auf den Strassen siehst?
Es fällt mir jedes Mal stark auf. In Finnland gehört die Sichtbarkeit im Winter einfach dazu – Reflektoren sind fast so selbstverständlich wie Handschuhe. Zum Beispiel sind Wintersportkleidungen grundsätzlich mit Reflektoren ausgerüstet. Wenn ich in der Schweiz unterwegs bin und sehe, wie viele Leute und Velofahrer ohne Licht oder Reflektor durch die Dunkelheit gehen und fahren, wirkt das für mich ehrlich gesagt sehr riskant. Die Strassen ausserhalb der Städte sind oft nicht so gut beleuchtet, und Autofahrer haben kaum eine Chance, jemanden rechtzeitig zu sehen. Ich denke dann: Ein kleiner Reflektor könnte so viel bewirken, kostet fast nichts und macht den Unterschied zwischen Gefahr und Sicherheit. Es überrascht mich, dass das hier noch nicht Teil der Kultur ist, obwohl die Winter auch hier sehr dunkel sind.
Wer hat’s erfunden? Arvi Lehti war es
Vielleicht wären die kleinen Reflektoren in der Schweiz beliebter, wenn sie hier erfunden worden wären. Stattdessen ist der Vater der Reflektor-Bewegung ein Finne. Arvi Lehti, ein Bauer aus einem kleinen Dorf im Südwesten des Landes. Er hatte sich 1955 eine Spritzgussmaschine für Kunststoff gekauft. Ausserdem interessierte ihn, wie Prismen Licht reflektieren. Aus technischer Möglichkeit und Neugier entstand 1963 der erste Sicherheitsreflektor für Fussgänger. Lehti hatte zwei Kunststoffplättchen am Rücken zusammengeklebt, eine Schnur durchgezogen und das Teil mit einer Sicherheitsnadel an einem Mantel befestigt. Wie manch anderer Erfinder scheiterte auch Lehti mit seiner Idee zunächst. Wie es in der Geschichte der Firma heisst, fanden die Leute das Design seltsam und das Ding war ihnen zu schwer.
Arvi Lehtis Sohn Taisto verfolgte nach dem Tod des Vaters die Idee weiter. 1973 kam dann das Produkt auf den Markt, das zu einer Ikone für die Firma und für ganz Finnland wurde: ein reflektierender Anhänger in Form einer Schneeflocke, designt von Kalervo Suomela.

Quelle: Peter Marten
Die ungewohnte Form galt als innovativ und kam deutlich besser an als das dröge Rechteck früherer Versionen. Warum er schliesslich bei einer Schneeflocke landete, erklärte Suomela in einem Interview einmal so:
Wir wollten etwas herstellen, was Kinder gerne benutzen, um ihnen frühzeitig gute Gewohnheiten beizubringen. Schließlich rettet dieses Ding Leben.
Heute kann man sagen: Mission erfüllt! Die Zahl toter und verletzter Fussgängerinnen und Fussgänger sinkt in Finnland seit Jahren und lag zuletzt bei deutlich unter 20 pro Jahr. Zum Vergleich: In der Schweiz starben 2024 42 Fussgängerinnen und Fussgänger bei Unfällen im Strassenverkehr. Auch wenn Finnland nur knapp sechs Millionen Einwohner und damit weniger als die Schweiz hat – die Gefahr eines tödlichen Unfalls ist bei uns deutlich höher. Auch im EU-Vergleich sind Menschen in Finnland auffallend sicherer unterwegs als in anderen Ländern, wie [ein Report zeigt]( https://road-safety.transport.ec.europa.eu/system/files/2023-02/erso-country-overview-2023-finland_0.pdf].
Von den Finnen lernen heisst also überleben lernen. Es ist ja keineswegs so, dass es hierzulande zu wenig Auswahl an reflektierenden Anhängern gibt. Eine schnelle Suche im Shop liefert eine automatisch generierte Liste der Bestseller. Hier ein paar zur Auswahl:
Oder soll's etwas freundlicher sein?
Wichtig zu wissen: Bei den Reflektoren oben handelt es sich um sogenannte Softreflektoren. Sie sind weich und flexibel. Das Material enthält winzige Glasperlen oder Fasern aus reflektierendem Material, die das Licht streuen und zur Quelle zurückwerfen. Reichweite und Leuchtkraft sind geringer als bei den Prismen-Reflektoren, wie sie in den 70er-Jahren üblich waren.
Die Prisma-Reflektoren, auch Retroreflektoren genannt, bestehen aus vielen winzigen Prismen oder Reflexwürfeln, die aus Kunststoff oder Glas gemacht sind. Die kleinen Hohlspiegel lenken dann einfallendes Licht dreimal um und schicken es in die Richtung zurück, aus der es gekommen ist, und zwar unabhängig vom Einfallswinkel. Katzenaugen am Velo sind das bekannteste Beispiel für Retroreflektoren.
Anhänger, die nach dem Prisma-Prinzip arbeiten, gibt es dagegen bei uns kaum mehr. Hin und wieder werden sie noch als Werbegeschenke verteilt, oder die Polizei stattet Kindergarten- und Schulkinder damit aus. Ich habe im Shop bei Galaxus gesucht und in den Tiefen des Sortiments wenigstens ein paar gefunden.

Starpak Reflektierendes Schnapparmband und Schlüsselanhänger



Quelle: Liikenneturvan
Entscheidender Vorteil bei der Reichweite
Retroreflektoren haben einen Reichweitenvorteil von 100 Prozent. Schon aus 300 bis 400 Meter kann ein Autofahrer einen Velofahrer oder eine Fußgängerin sehen, die einen solchen Refektor trägt. Bei einem Softreflektor sinkt die Entfernung auf 100 bis 200 Meter. Das liegt dann etwa im Bereich von Reflektorstreifen oder Warnwesten, die aber ohnehin kaum jemand trägt, wenn es raus geht zum abendlichen Spaziergang.
Wer aber gar keinen Reflektor trägt, vielleicht sogar nur in dunkler Kleidung unterwegs ist, wird erst auf eine Entfernung von 20 oder 30 Metern gesehen. Das ist ziemlich wenig, wenn man weiss, dass der Anhalteweg eines Autos bei 50 km/h stolze 40 Meter lang ist. Auf trockener Strasse, versteht sich. Von regennasser oder schneebedeckter Fahrbahn ist hier noch gar nicht die Rede.
Besser als Labubus
Es ist doch ganz einfach: Hängen wir uns doch statt blöde grinsender Plüschfiguren aus China hübsche Reflektoren an die Rucksäcke und Handtaschen. Wo sind eigentlich all die Influencerinnen und Influencer, wenn man sie mal wirklich brauchen könnte?

Quelle: Safety Reflector
Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln.
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
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