Führ mich zum Schotter
Hintergrund

Führ mich zum Schotter

Einen Plan? Brauche ich nicht. Ich habe ein Gravelbike. Es führt mich auf Schleichwegen durch die Schotterstadt Zürich.

Raureif trifft auf dicke Reifen. Es knirscht und surrt an diesem kalten Novembermorgen. Mein Mountainbike habe ich für diese Tour gegen ein Gravelbike getauscht und bin mir nicht sicher, wohin das führen wird. Der Tag empfängt mich mit Frühnebel und dampfenden Dolen, während ich die ersten Meter unter die Räder nehme. Wo ich hin will, weiss ich nur so ungefähr. Ich folge dem Schotter. Sieht es links verheissungsvoll aus, biege ich links ab. Kann ich dem Asphalt rechts schneller entkommen, geht es dort weiter. Ganz verlassen will ich die Stadt aber auch nicht. Sondern durch Zürich graveln und dabei dem Zeitgeist nachspüren.

  • Hintergrund

    Gravelbike trifft Zeitgeist

    von Michael Restin

Trends kommen und gehen. Oder sie etablieren sich, werden zum Mainstream wie Mountainbikes. Schon klar, dass sich die Velo-Branche, wie jede andere auch, beständig etwas Neues einfallen lassen muss. Und dass das Rad nicht jede Saison neu erfunden werden kann. Dafür wird alles immer spezialisierter. Du kannst dir den Keller mit Race-, Endurance und Aero-Rennvelos vollstellen, falls neben den Cross-Country-, Downhill- und All-Mountain-Bikes noch Platz ist. Und dann auf den Gedanken kommen, dass weniger doch mehr wäre.

Gravel and the city

Wo eine Stadt ist, ist auch ein (Aus-)Weg.
Wo eine Stadt ist, ist auch ein (Aus-)Weg.

Das Gravelbike erfüllt diese Sehnsucht mit dem Versprechen fast grenzenloser Möglichkeiten. Halb Roadbike, halb Mountainbike. Hier kannst du alles haben, du musst dich nicht entscheiden. Das Angebot zieht und findet immer mehr Fans, die sich auf eigene Faust oder bei «Gravel Grinder» genannten Rennen auf und neben der Strasse ausleben. Ich ziehe gerne mit, der Ansatz gefällt mir. Mit klassischen Rennvelos bin ich nie richtig warm geworden.

Nun rolle ich über Asphalt, erklimme den Waidberg, habe die Stadt im Rücken und brennende Lungen. Die hätte ich auch auf dem Mountainbike haben können, genau wie das Surren der 2.10" Reifen. Wäre da nicht der Rennlenker mit dem Bremsschalthebel, den ich zum Einstieg relativ häufig bemühen muss – ich würde mich auf einem Hardtail-MTB vermuten, an dem alles eine Spur schlanker ist. Oder auf einem Rennvelo mit Mumps. Gut, dass ein Viertel der Zürcher Stadtfläche bewaldet ist und die Strasse gleich endet. Schotter in Sicht.

Hier bin ich richtig.
Hier bin ich richtig.

Kein Verkehr, kaum ein Mensch. Ich lasse das Bike seinen Weg suchen, entscheide intuitiv und falle damit auf die Schnauze. Einmal wortwörtlich, weil Übermut, ein neues Velo, nasses Laub auf Schotter und Klickpedale sich als ungünstige Kombination herausstellen. Und häufiger im übertragenen Sinne, was meine Streckenwahl angeht. Es gibt zu viele Wege, die kurzfristig Spass versprechen und im Nichts enden oder sich mit steilen Anstiegen rächen.

Trotzdem verstehe ich mit jeder Minute im Sattel besser, was den Gravel-Trend so attraktiv macht. Ob Asphalt, Schotter oder Matsch, Wurzeln und Blätter, alles lockt und du setzt dir selbst die Grenzen dessen, was möglich ist. Die Scheibenbremsen sind griffig, die Sitzposition angenehm, die 11-fach-Schaltung völlig ausreichend. Das Vertrauen ins Bike ist schnell da und mein Orientierungssinn schnell weg. Nach einigen Runden zwischen Waid- Käfer- und Hönggerberg, auf denen ich mich völlig verliere, merke ich, dass das totale Lustprinzip einen Nachteil haben kann: Ich bewege mich im Kreis. Ein Ziel muss her.

Irgendwann sehe ich den Wald vor lauter Blättern nicht mehr.
Irgendwann sehe ich den Wald vor lauter Blättern nicht mehr.

Führ mich zum Wasser, aber bitte auf möglichst viel Schotter. Ich will an den Zürisee, ohne mich durch den Stadtverkehr zu quälen. Durch die Stadt, ohne dabei wirklich in der Stadt zu sein. Auf den schönstmöglichen Schleichwegen. Ganz ohne Asphalt wird es nicht gehen, aber die Vielfalt der Untergründe soll ja den Gravel-Reiz ausmachen.

Ich verlasse die geistige Sackgasse, in die ich mich manövriert habe, nehme grob Kurs auf den Zürichberg und lande in der Vergangenheit. Auf einer Waldlichtung stehen Endzwanziger in mittelalterlichen Gewändern herum, die frierend auf ihren Einsatz warten. So ist das beim Film oder Fernsehen. Offensichtlich wird hier gleich gedreht und irgendwer kommt zu spät. Ich kann nicht auf Action warten. Es ist saukalt und ich will dem Zeitgeist der Gegenwart auf den Fersen bleiben. Die hat mich schneller wieder, als mir lieb ist. In Form einer vollen Dröhnung Stadtverkehr, die ich einfach nur hinter mich bringen will.

Wo der Schotter wohnt

Es gibt schlechtere Orte für Schotter (oder für eine Pause) als den Sonnenberg.
Es gibt schlechtere Orte für Schotter (oder für eine Pause) als den Sonnenberg.

Wer den Bucheggplatz, diese von Tramgleisen zerschnittene Zumutung von einem Kreisverkehr, auf dem Bike überlebt, kann aufatmen und wieder zuversichtlicher nach vorne blicken. In der Ebene zeigen sich auf der Strasse die Rennrad-Gene, die mein Rondo Ruut ST im Wald gekonnt kaschiert hat. Bald strample ich wieder bergauf, auf von Villen gesäumten Strassen in Richtung Zoo und FIFA, dem nächsten Waldrand entgegen. Hier ist der Schotter zuhause. Definitiv.

Oben angekommen, ist es nicht mehr weit bis zum Biketrail Adlisberg und anderen Wegen, die mich meinem Ziel wieder artgerecht näher bringen. Wobei ich es eigentlich schon erreicht habe, denn mehr als Spass suche ich gar nicht. Den habe ich schon dadurch gefunden, dass ich von meinen gewohnten Routen abgekommen bin. Wenn ich nach Jahren in der Stadt noch neue Perspektiven entdecken kann, macht mich das glücklich.

Und weil es auch nie verkehrt ist, alte Wege neu zu entdecken, mache ich noch einen Abstecher durch das Elefantenbachtobel, wo bereits die Sonne durch die nur noch spärlich behangenen Bäume drückt und das Laub am Boden zum Leuchten bringt. Nun trennt mich nicht mehr viel Stadt vom Seeufer, das mich mit stahlblauem Himmel empfängt und ein würdiger Schlusspunkt meiner Tour ist. Übers Wasser geht es, soweit ich weiss, auch mit dem Gravelbike nicht weiter. Auf den verschlungenen Wegen durch die Stadt habe ich eines gelernt: Schotter findet sich fast überall, ist aber nicht alles im Leben.

Am Wasser ist auch mit dem Gravelbike Ende Gelände.
Am Wasser ist auch mit dem Gravelbike Ende Gelände.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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