Deine Daten. Deine Wahl.

Wenn du nur das Nötigste wählst, erfassen wir mit Cookies und ähnlichen Technologien Informationen zu deinem Gerät und deinem Nutzungsverhalten auf unserer Website. Diese brauchen wir, um dir bspw. ein sicheres Login und Basisfunktionen wie den Warenkorb zu ermöglichen.

Wenn du allem zustimmst, können wir diese Daten darüber hinaus nutzen, um dir personalisierte Angebote zu zeigen, unsere Webseite zu verbessern und gezielte Werbung auf unseren und anderen Webseiten oder Apps anzuzeigen. Dazu können bestimmte Daten auch an Dritte und Werbepartner weitergegeben werden.

Hintergrund

Justine, ihr Wählscheiben-Handy und die Tücken der Massenproduktion

David Lee
10.11.2023

Justine ist unzufrieden mit Smartphones und baut sich ihr eigenes Mobiltelefon. Allein und von Grund auf – denn es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt. Das ist kein Problem für sie. Schwierig wird es erst, als sie versucht, das Gerät auf den Markt zu bringen.

Die Geschichte dieses Projekts reicht zurück bis Anfang 2020. Es ist eine Geschichte voller Enttäuschungen und Probleme, aber auch immer wieder neuer Hoffnung. Ich fiebere bis heute mit – nicht nur, weil ich gern mein Telefon haben möchte, sondern weil ich mir wünsche, dass sie Erfolg hat mit ihrem Projekt. Denn es ist mutig, es ist cool und auf eine sympathische Art verrückt.

Die Idee

Justine ist ein Nerd wie aus dem Bilderbuch. Sie arbeitet am Forschungsinstitut Brookhaven National Laboratory und entwickelt nebenbei Roboter. Sie arbeitet mit Debian, macht prinzipiell alles Open Source und rantet über Patente. Selbstdarstellung liegt ihr nicht. Aufgrund des grossen Interesses berichtet sie dennoch über ihr Projekt.

Auch das tut sie so, wie du es von einem Nerd erwartest. Ihr erstes Youtube-Video beginnt sie mit «bitte abonniere diesen Kanal nicht». Das war nicht als Witz gemeint. Etwa 31 700 Personen sind dieser Bitte nicht nachgekommen.

In diesem Video erklärt Justine in den ersten fünf Minuten ihre Motivation, sich ein Anti-Smartphone zu bauen, und in den nächsten zehn Minuten, wie die erste Version des Telefons funktioniert. Der lange Rest des Videos zeigt den Zusammenbau – denn die ersten Telefone will Justine als Bausatz verkaufen.

Justine stört an Smartphones unter anderem, dass sie nie weiss, was das Gerät eigentlich tut. Was im Hintergrund und unter der Haube läuft. Es gibt keine Handbücher mehr. Alle Hersteller gehen davon aus, dass die Nutzerinnen und Nutzer schon wissen, wie man das Gerät bedient – trotz der hohen Komplexität.

Justine hält das für «Bullshit».

Das Telefonieren soll mit diesem Gerät einfacher und besser gehen als mit einem Smartphone. Die Signalstärke wird genauer angegeben und die Antenne ist grösser. Daher ist vermutlich der Empfang besser.

Natürlich weckt es auch nostalgische Gefühle: Das Telefon hat eine richtige Glocke. Wie ein altes Wandtelefon. Es passt jedoch bequem in eine Hosentasche. Es ist schliesslich ein Mobiltelefon – und deutlich kleiner, als es auf den ersten Blick wirkt.

Das Video stammt vom 4. März 2020. Das Un-Smartphone ist zu diesem Zeitpunkt bereits durchdacht und funktioniert. Justine hat es ursprünglich für sich selbst gebaut und benutzt es als Haupttelefon. Eine Massenproduktion ist anfänglich nicht vorgesehen.

Okay, dann produziere ich das halt

Das Video existiert nur, weil sich das Projekt kurz vorher, Anfang 2020, viral verbreitet hat. Von «Wired» bis zum «Spiegel» berichten unzählige Medien darüber. Natürlich wollen einige Leute unbedingt ein solches Telefon haben. Doch Justine hat keine Lust, Telefonherstellerin zu werden. Sie hat bereits einen Job und will nebenher noch eine Robotik-Firma gründen.

Sozusagen als Kompromiss fängt Justine an, Bestellungen für einen Bausatz entgegenzunehmen.

Globale Lieferschwierigkeiten

Der eigene Fertigungsprozess macht die Sache aber auch komplex – und fehleranfällig.

Die Produktionsmaschine ist kaputt

Am 13. Februar 2022 schreibt Justine, dass die ersten 84 Kits für Nordamerika noch im Februar versendet werden, wenn alles gut läuft. Für die übrigen 114 Vorbestellungen fehlt der OLED-Screen – Lieferschwierigkeiten. Justine bietet die Option an, das Telefon ohne OLED-Screen zu versenden und diesen später nachzuliefern. So nebenbei schreibt sie, die Bestückungsmaschine sei defekt.

Am 21. Februar korrigiert Justine: Die Bestückungsmaschine ist immer noch kaputt und die ersten Kits können nicht versendet werden. Neuer Termin: März. Justine weist – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – darauf hin, dass Vorbestellungen jederzeit storniert werden können.

Update am 6. März: Das zur Reparatur benötigte Ersatzteil ist – wie könnte es anders sein – nicht sofort lieferbar. Am 15. März ist das Ersatzteil da, löst aber das Problem nur teilweise. Justine versucht, die Maschine selbst zu reparieren. Es bereitet ihr Bauchschmerzen.

Erleichterung am 12. April – die Maschine läuft endlich! Kann Justine nun die vorbestellten Telefone produzieren und versenden?

Irgendwas ist immer

Für 2023 erwartet Justine, dass sie neu bestellte Telefone direkt produzieren kann – «wie ein normales Business».

Aber das hier ist kein normales Business. Anfang September schreibt Justine, sie habe noch nicht mit der Massenproduktion begonnen, aber am nächsten Tag sei es so weit. Es gebe da nur noch einen kleinen Hardware-Bug …

Das Vorschau-Video ist witzig und unterhaltsam. Auch in diesem Bereich hat sich also etwas getan.

Am 15. November 2022 dann die Ernüchterung. Die Wählscheiben wählen nicht zuverlässig. Manchmal wählen sie die richtige Nummer, manchmal nicht. Alle bisher zusammengesetzten Phones müssen verschrottet werden. 770 Stück hätten bis Weihnachten fertig sein sollen – dafür reicht die Zeit nicht jetzt mehr.

Justine bietet an, das Geld zurückzuzahlen. Will ich nicht, ich will das Telefon. Sie bittet, mitzuteilen, wenn es nicht eilt. Das tue ich.

Daneben gibt es noch zwei vergleichsweise kleine Probleme, die behoben werden müssen: Der Kopfhöreranschluss funktioniert nur zum Hören, nicht zum Sprechen. Und die Akkulaufzeit beträgt nur 12 Stunden. Irgendwas ist immer.

2023 – jetzt wird’s erst richtig kompliziert

Irgendwann Anfang 2023 hat Justine tatsächlich alle Probleme gelöst. Bloss, um ein neues Problem aufgehalst zu bekommen. Eines, das grösser ist als alle bisherigen.

Wer bereits bestellt hat, kann – wie immer – aussteigen und das Geld zurückverlangen. Die Alternativen: auf die Zertifizierung warten oder das Telefon als experimentelles Kit erhalten. Ich entscheide mich, zu warten. Möglicherweise würde das Telefon in Europa sogar funktionieren, aber ich habe keine Lust auf Gebastel und endlose Fehlersuche.

All in: Es gibt kein Zurück

Das hat auch Justine nicht. Es gibt diese Momente, wo sie am liebsten alles an den Nagel hängen würde. Aber dafür hat sie schon zu viel Zeit und Herzblut investiert. Wenn sie jetzt aufgeben würde, wäre alles für nichts gewesen. Und alle, die bestellt haben, wären enttäuscht. Das ist keine Option.

Die Zertifizierung kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Und überhaupt ist schon länger klar, dass Justine sich nicht um alles selbst kümmern kann. Nur schon das Beantworten der Tausenden von Mails wäre ein Job für sich. Da Aufgeben keine Option ist, gibt es nur eines: das Unternehmen grösser aufziehen.

Justine holt also einen Business-Partner an Bord, der auch CFO ist. Die Firma zieht in ein neues Hauptquartier, stellt weitere Leute ein. Die Garage-Phase ist vorbei. Das führt aber auch zu einem Wust weiterer Arbeit, die erledigt werden muss, bevor Justine sich um die Telefon-Zertifizierung kümmern kann.

Kleine Randnotiz: Die Produktionsmaschine ist nach nur 15 gefertigten Telefonen wieder ausgefallen. Justine hat Angst, dass man ihr das alles nicht mehr glaubt.

Die Maschine läuft aber bald wieder und im September ist die Hälfte der Kits fertig produziert. Immerhin. Für die andere Hälfte fehlen mal wieder Chips.

Der Liefertermin der fertigen, zertifizierten Telefone ist nach wie vor bei «keine Ahnung». Vielleicht Mitte 2024. Dann warte ich noch ein Weilchen.

Viel Glück, Justine.

194 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


Hintergrund

Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.

Alle anzeigen

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    «Borderlands 4» ist repetitiv, bietet kaum Innovation, aber die Beutegier lockt noch immer

    von Philipp Rüegg

  • Hintergrund

    Flut von KI-Musik: mehr ist definitiv nicht besser

    von David Lee

  • Hintergrund

    «The Outer Worlds 2» angespielt: kleiner als «Starfield», dafür mit mehr Humor

    von Philipp Rüegg