
Hintergrund
Anime statt Hollywood: Wie Japan das Erzählen neu definiert
von Luca Fontana
Eine K-Pop-Girlgroup, die nachts Dämonen jagt. Klingt verrückt, wurde aber zum grössten Animationshit auf Netflix. «K-Pop Demon Hunters» ist mehr als ein Film: Es ist ein Lehrstück über Hollywoods Blindheit und Asiens Aufstieg.
Als «K-Pop Demon Hunters» im Juni auf Netflix startet, passiert etwas, das man in Hollywood nicht alle Tage sieht: Ein Animationsfilm wird zum grössten kulturellen Erdbeben seit «Frozen». Internationale Charts, TikTok, Cosplay, Streaming-Rekorde … plötzlich ist alles voll mit K-Pop und Dämonenjagd. Ein neues, potenziell milliardenschweres Franchise wurde geboren.
Und das Absurdeste daran? Sony hat es Netflix so gut wie geschenkt.
Aber von vorn.
Anfang 2020 ist Maggie Kang keineswegs eine Starregisseurin, als sie ihre Idee erstmals bei Sony vorträgt. Sie ist eine unscheinbare Storyboard-Künstlerin, die an Filmen wie «Rise of the Guardians» und «Puss in Boots» mitgearbeitet hat. Aber was sie im Sinn hat, ist persönlicher als alles, was sie je zuvor gezeichnet hat: Eine K-Pop-Girlgroup, die nachts Dämonen jagt.
Verrückt, überdreht, und ein Liebesbrief an ihre koreanischen Wurzeln.
Anders als viele Projekte in Hollywood ist dies kein seelenloser Pitch, sondern ein Stück Biografie. Maggie ist nämlich in Seoul geboren, in Kanada aufgewachsen und hat als Teenager ihre Leidenschaft für K-Pop und koreanische Folklore oft verstecken müssen, weil sie dafür ausgelacht wurde. Jetzt will sie genau daraus eine Geschichte machen. Mit sogenannten Idols, die nicht perfekt und unnahbar sind, sondern schräg, lustig und verletzlich. Genau wie Maggie selbst.
Aaron Warner, der Produzent von Dreamworks’ «Shrek» und mittlerweile Sony-Produzent, erkennt sofort, dass darin mehr steckt als ein blosser Gag. Während andere das Konzept belächeln würden, meint er nur: «I love it. I want to make this.»
Nur eine Woche später ist der Deal bereits beschlossene Sache – aber nicht alle bei Sony ziehen mit.
Während Aaron Warner das Projekt vorantreibt, bremst Sonys Konzernzentrale. K-Pop-Idols, die Dämonen jagen? Zu riskant. Hollywood liebt sichere Wetten. Wetten wie Sequels, Prequels, Spin-offs, Superhelden und bekannte Franchises mit etablierter Fanbase. «K-Pop Demon Hunters» passt in keine dieser Schubladen.
Hinzu kommt, dass nach der Corona-Pandemie viele Menschen Kinosäle meiden – und Sony entsprechend das Risiko.
Ironisch daran: Genau zu dieser Zeit rollt die K-Wave über die Welt. Die südkoreanische Boygroup BTS füllt in Asien Stadien, während Blackpink internationale Streaming-Rekorde knackt und sowohl «Parasite» als auch «Squid Game» zeigen, dass südkoreanische Kultur längst nicht mehr Nische, sondern Mainstream ist.
Die Zeichen stehen auf Sturm – doch bei Sony will man lieber den Schirm aufspannen. Während das immer teurer werdende K-Pop-Projekt bei Sony Pictures Animation, das Studio hinter «Spider-Man: Across the Spider-Verse», fast wieder in der Schublade verschwindet, wittert ein anderer Player die Chance: Netflix.
Der Streamingriese hat längst erkannt, was Sony vor der eigenen Nase entgeht.
2021 macht Sony also den entscheidenden Schritt. Oder besser: den entscheidenden Fehler. Statt den Film selbst ins Kino zu bringen, einigt man sich mit Netflix auf einen Pauschal-Deal: Der Streamer übernimmt die Produktionskosten von rund 100 Millionen Dollar und legt weitere 20 Millionen obendrauf. Für Sony bedeutet das ein garantiertes Plus in der Bilanz.
20 Millionen Dollar. Ganz ohne Risiko.
Klingt super. Eigentlich. Was Sony noch nicht realisiert: Man sitzt auf einem Los, das den Jackpot der Popkultur einbringen wird. Doch statt abzuwarten, bis die Zahlen gezogen sind, verscherbelt man es mit Rabatt an Netflix. Die Kalifornier kaufen indes nicht einfach einen Film – sie kaufen eines der mächtigsten globalen Fandoms der Geschichte.
Vier Jahre später zeigt sich, wie fatal Sonys Rechnung war. Am 20. Juni 2025 debütiert «K-Pop Demon Hunters» auf Netflix – und explodiert. Binnen Tagen stürmt der Film an die Spitze der Charts und wird zum meistgesehenen animierten Original in der Geschichte des Dienstes. Heute, mit inzwischen über 236 Millionen Views, ist er offiziell sogar der beliebteste Netflix-Film aller Zeiten und hat sich seit Release über elf Wochen (!) auf Platz 1 der Netflix-Charts gehalten.
Aber es bleibt nicht beim Streaming. Als Netflix im August 2025 ein Sing-Along-Event in Kinos rund um den Globus organisiert, füllen sich mehr als 1300 Säle von New York bis Sydney. In Nordamerika klettert die Karaoke-Version sogar kurzfristig auf Platz 1 der Kinocharts. Und sogar Tennis-Ikone Novak Djokovic tanzt bei den US Open eine Choreo aus dem Film nach.
Parallel dazu schreibt der Soundtrack Geschichte: Gleich vier Songs der fiktiven K-Pop-Gruppen HUNTR/X und Saja Boys stürmen gleichzeitig in die Top 10 der Billboard Hot 100 – ein Novum für einen Film-Soundtrack. Noch wichtiger: Mit «Golden» landet erstmals in der Geschichte ein Song einer K-Pop-Girlgroup auf Platz 1 der Billboard-Charts. Das Album selbst erreicht Platz zwei der Billboard 200 und hat mittlerweile über drei Milliarden Streams weltweit.
Für Netflix ist «K-Pop Demon Hunters» mittlerweile das, was «Frozen» für Disney war: ein potenziell milliardenschwerer Kern für ein neues Franchise mit schier unendlichem Spin-off-, Prequel-, Sequel- und sogar Live-Action-Potential. Und Sony? Die kriegen für all das gerade mal lachhafte 20 Millionen Dollar Marge.
Vorerst.
Sony-CEO Ravi Ahuja selbst hat nämlich erst kürzlich bestätigt, dass Netflix zwar die weltweiten Vertriebs- und Auswertungsrechte am Franchise besitzt. Darunter etwa Streaming, Kino-Events, Merchandising und sogar die Fanartikel in den hauseigenen Netflix-Shops. Die Produktionsrechte für mögliche Fortsetzungen liegen allerdings weiterhin bei Sony Pictures Animation.
Kurz: Im Moment kann keiner ohne den anderen irgendetwas machen.
Genau deshalb laufen hinter den Kulissen bereits Verhandlungen über Teil 2. Netflix argumentiert, dass es ohne seine Weitsicht gar kein Franchise gebe, und will es deshalb fest an sich binden. Sony hingegen will nicht noch einmal mit leeren Händen dastehen und sagt, dass es seine kreativen Köpfe sind, die massgeblich zum Erfolg beigetragen haben.
Das grosse Ringen ums Franchise hat also begonnen. Im Moment lächelt Netflix. Aber für das, was kommt, sind Sony und Netflix vertraglich aneinander gebunden. Wenn sie die K-Pop-Kuh weiterhin melken wollen, können sie gar nicht anders, als gemeinsam eine Lösung zu finden.
Und die findet sich immer, wenn so viel Geld auf dem Spiel steht …
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
Alle anzeigen