

Anime statt Hollywood: Wie Japan das Erzählen neu definiert

Im Westen war Anime lange Kinderkram – heute ist er globale Popkultur. Vom Streaming bis ins Kino, vom Bücherregal bis zur Oscar-Gala: Die japanische Erzählform erobert die Welt. Und das ist kein Zufall.
Neulich im Buchladen. Ich blättere gerade bei den Neuerscheinungen, da fällt mein Blick auf ein riesiges Regal voller Mangas. «Solo Leveling», «Jujutsu Kaisen», «Blue Lock», «Gachiakuta» – fein säuberlich sortiert, prominent platziert. Vor dem Regal: Drei Teenager, ein Pärchen Mitte zwanzig und ein Mann mit grauen Schläfen, vielleicht Ende dreissig. Alle blättern, stöbern, vergleichen. Und ich denke: Wann ist das passiert?
Wann wurden Manga und Anime vom Kinderkram zur Kulturbewegung?

So zumindest habe ich Anime lange wahrgenommen: als Kinderunterhaltung. Mit etwa zehn leuchteten meine Augen bei «Pokémon», «Dragonball» und «One Piece». Später wurde ich älter, und Anime verschwand aus meinem Alltag. Anfang zwanzig wurde es in meinem Umfeld eher belächelt. Heute? Gefühlt schaut die halbe Welt Anime – und niemand zuckt mehr mit der Schulter.
Das war früher anders. Als sich «Spirited Away» 2001 als erster Anime den Oscar für den besten Animationsfilm holte, war das noch eine Ausnahmeerscheinung – ein Meilenstein, der erst Jahre später breitere Wellen schlug. Aber spätestens seit «Parasite» 2020 den Oscar für den besten Film gewann und «Squid Game» zu einem weltweiten Phänomen wurde, ist klar: Gute Geschichten brauchen kein Hollywood-Label mehr, um in der globalen Popkultur Anklang zu finden.
Keine Frage, dieser Perspektivwechsel hat auch Anime in die Karten gespielt. Im Westen mausert es sich sogar immer mehr zum Mainstream. Das sage nicht nur ich. Das sagen auch die Zahlen.
Anime, das neue Streaming-Gold
Allein Netflix liefert beeindruckende Belege für den Anime-Boom. Laut eigenen Angaben schaut bereits mehr als die Hälfte aller Abonnentinnen und Abonnenten weltweit Anime. Genaugenommen rund 150 Millionen Haushalte, also etwa 300 Millionen Menschen. Diese hätten vergangenes Jahr zusammen rund eine Milliarde Mal einen Anime gestreamt – dreimal so viel wie 2019.
Besonders auffällig: Über das Jahr hinweg tauchten ganze 33 verschiedene Anime-Titel in den globalen Top 10 der meistgesehenen nicht-englischen Inhalte auf – fast doppelt so viele wie noch 2021.
Genau darauf hat Netflix mit grossen Investitionen reagiert – in japanische Originalproduktionen ebenso wie in Anime-inspirierte Serien aus den USA, etwa «Castlevania» oder «Blue Eye Samurai». Selbst grosse Live-Action-Adaptionen wie «One Piece» oder «Avatar: The Last Airbender» dienen als Türöffner, um ein breites Publikum für Anime zu begeistern. Dazu kommen selbst produzierte Synchronfassungen in bis zu 33 Sprachen – ein deutliches Signal, dass Netflix Anime nicht mehr als Nische betrachtet, sondern als zentrale Content-Säule für den globalen Markt.
Doch nicht nur Netflix surft auf der Anime-Welle. Auch die spezialisierte Plattform Crunchyroll legt rasant zu: Zwischen 2021 und 2024 hat sich die Zahl der zahlenden Abos von fünf auf über 15 Millionen verdreifacht. Damit ist Crunchyroll nicht nur der grösste reine Anime-Streamer ausserhalb Japans, sondern zählt auch zu den am schnellsten wachsenden Streamingdiensten weltweit. Zusammen mit Netflix kontrolliert man mittlerweile mehr als 80 Prozent des internationalen Anime-Markts.
Tatsächlich sehe man Netflix bei Crunchyroll wohl gar nicht mal als Konkurrenz, sagen Wall-Street-Analysten, sondern als wertvolle Unterstützung: Wer beim kalifornischen Streaming-Gigant auf den Geschmack kommt, landet oft früher oder später bei Crunchyroll. Entsprechend brummt das Geschäft. Crunchyroll ist längst profitabel und gilt beim japanischen Mutterkonzern Sony als einer der wichtigsten strategischen Pfeiler.

Auch Disney+ und Prime Video wollen ein Stück vom Anime-Kuchen. Laut einer internationalen Umfrage greifen 32 Prozent der Anime-Fans zu Disney+, 29 Prozent zu Amazon Prime – nur Netflix liegt mit 48 Prozent davor. Disney setzt dabei gezielt auf Exklusivität: Serien wie «Bleach: Thousand-Year Blood War» oder «Star Wars: Visions» sind fest an die Plattform gebunden.
In den USA verstärkt Hulu – hierzulande Teil von Disney+ – diesen Kurs. Dort entfallen rund zwölf Prozent der gestreamten Inhalte auf Anime, bei Netflix sind es knapp sieben. Zuletzt sorgte «Predator: Killer of Killers» für einen Schub. Und angeblich denkt sogar Regisseur James Cameron über animierte «Avatar»-Spin-offs für Hulu nach.
Anime im Kino: Vom Event zur festen Grösse
Streaming mag der Motor des Anime-Booms sein – aber auch im Kino schlägt sich die neue Popularität nieder. Und wie.
Lange Zeit waren Anime-Filme im Westen ein Randphänomen: vielleicht ein Ghibli-Event im Jahr, mit Glück eine «Pokémon»-Premiere – das war’s. Heute laufen sie regelmässig auf der grossen Leinwand, füllen ganze Säle und ziehen ein Publikum an, das weit über Cosplay-affine Generation-Z-Fans hinausgeht.
Ein Blick auf die Zahlen macht das deutlich: «Demon Slayer: Mugen Train» spielte weltweit knapp 500 Millionen Dollar ein – mehr als jeder andere Film des Corona-Jahres 2020. In Nordamerika knackte der Film fast 50 Millionen Dollar und wurde dort zum zweiterfolgreichsten japanischen Film aller Zeiten.
Fast genauso erfolgreich waren «Jujutsu Kaisen 0» (2022) und «Dragon Ball Super: Super Hero» (2022), die ebenfalls weit vorne landeten: mit 34,5 Mio. bzw. 38 Mio. Dollar allein in den USA. Zum Vergleich: Noch 2015 galt es als Sensation, wenn ein Anime die 10-Millionen-Marke durchbrach. Heute reicht das kaum mehr für einen Nebensatz in der Branchenpresse.
Das neue Selbstverständnis zeigt sich allerdings auch abseits von Shōnen-Schlachten zeigt sich: Während Studio Ghiblis «The Boy and the Heron» Disney und Co. in die Schranken wies und 2024 den Oscar für den besten Animationsfilm gewann, spielte «Suzume», einer der gefeiertsten Filme des japanischen Regisseurs Makoto Shinkai («Your Name»), in den USA über 10 Millionen Dollar ein – weltweit sogar mehr als 320 Millionen.
Was früher als «Eventkino für Nerds» galt, ist heute fester Bestandteil des internationalen Kinokalenders. Verleiher wie Crunchyroll oder GKids bringen Animes wie «Haikyuu!!» nicht mehr nur punktuell, sondern mit durchdachten Startstrategien ins Kino – oft gleichzeitig in Originalfassung und Synchro, mit Previews, Merchandise und gezieltem Marketing.
Die Rechnung geht auf: Wer heute ins Kino geht, hat gute Chancen, dass neben Marvel und Pixar auch ein Anime auf dem Spielplan steht.
Manga-Boom: Jetzt sprechen auch immer mehr Comic plötzlich japanisch
Der Erfolg im Kino und Streaming hat auch den Buchhandel verändert. Durch die Comic-Abteilung zu schlendern bedeutet immer seltener, nur vor westlichen Superhelden zu stehen, sondern auch vor Regalen voller Mangas. Von «Death Note» über «Spy x Family» bis zu «My Hero Academia» und «One Punch Man». Noch vor ein paar Jahren hätte man dafür eine gut sortierte Comicbuchhandlung gebraucht.
Besonders in den USA, dem grössten westlichen Comicmarkt, hat sich Manga zu einer dominanten Kraft entwickelt. 2021 explodierten die Verkaufszahlen regelrecht: Über 24 Millionen Manga-Bände wurden verkauft – das sind 160 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Serien wie «Kaiju Nr. 8» oder «Solo Leveling» dominierten die Bestsellerlisten, oft gleich mit mehreren Bänden gleichzeitig.
In Europa zeigt sich ein ähnliches Bild. Frankreich – die Grande Nation der «Bande Dessinée», die seit jeher auch Erwachsene anspricht – zählt Manga inzwischen zur zweitwichtigsten Publikationsform im gesamten Buchmarkt. Aber auch hierzulande schaffen es jüngere Manga-Serien wie «Dan Da Dan» oder «The Apothecary Diaries» regelmässig in die allgemeinen Bestsellerlisten – und das nicht nur in die der Comics.
Das Spannende daran: Der Boom kommt nicht nur durch neue Leserinnen und Leser, sondern auch durch neue Zielgruppen. Manga ist auch im Westen längst nicht mehr ein bloss männlich dominiertes Teenager-Phänomen, sondern spricht auch junge Erwachsene, Frauen, Queer-Communities und generell Menschen an, die sich von westlichen Marvel- oder DC-Comics nie abgeholt fühlten.
Kein Trend, eine Zeitenwende.
Vielleicht erleben wir gerade nicht nur einen Boom, sondern den Beginn einer neuen Ära. Anime ist im Westen längst nicht mehr die Nische für Nerds oder der vermeintliche Zeichentrick aus Fernost, den man lange Zeit vor allem mit Kinder- und Jugendprogrammen wie «Heidi» oder «Mila Superstar» verband. Heute ist es ein globales Erzählmedium – so vielfältig, relevant und allgegenwärtig wie nie zuvor.


Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»