Ramon Schneider
Hintergrund

Miniatur Wunderland: Wie viel Diversität steckt in der kleinsten Welt der Welt?

Das Miniatur Wunderland in Hamburg begeistert mit präzisen Details und perfekter Illusion. Doch die Welt im Massstab 1:87 zeigt nicht nur, was ist, sondern auch, was fehlt. Eine Spurensuche zwischen Rennstrecke, Regenbogenflagge und Realität.

Mit vier Jahren bekam ich mein erstes Modellauto. Stundenlang fuhr es durch meine Fantasiewelt: über Bücher, unter Stühlen hindurch, vorbei an Playmobilfiguren und selbst gebauten Lego-Häusern. Jetzt stehe ich Jahrzehnte später vor der Miniaturversion von Monaco und das Gefühl ist zurück: Staunen. Kindliche Freude. Der Drang, genau hinzuschauen – aber diesmal mit einem kritischen Blick.

Sicht über den Hafen zur Rennstrecke von Monaco.
Sicht über den Hafen zur Rennstrecke von Monaco.

Kurz und Knapp: Zwei neuen Welten

Monaco ist spektakulär. Die Formel-1-Strecke schlängelt sich durch enge Gassen, das Publikum jubelt, im Hafen glitzert das Wasser. Mittendrin liefern sich die Boliden ein autonom gesteuertes Rennen. Elf Jahre lang hat das Team vom Miniatur Wunderland in Hamburg am System getüftelt. Speziell gefertigte Platinen ermöglichen dem Computer, jedes Fahrzeug präzise zu orten. So steuert er gezielte und einzigartige Überholmanöver und Boxenstopps. Das Rennen wirkt täuschend echt.

Ein paar Schritte weiter beginnt Rio de Janeiro: ein Favela-Hang, die Copacabana, der Karneval. Alles bewegt sich, alles wirkt lebendig. Diese Abschnitte sind die neuesten im Miniatur Wunderland. Sofort fällt auf: mehr Details, mehr Dynamik, mehr Staunen. Kein Wunder, denn die Miniaturwelt ist gigantisch. Auf über 1600 Quadratmetern fahren mehr als 1200 Züge, rollen über 11 000 Fahrzeuge und bewegen sich rund 290 000 Figuren. Über 400 Mitarbeitende haben in 24 Jahren mehr als 1,2 Millionen Stunden in den Bau und die stetige Erweiterung investiert.

Rio de Janeiro ist nicht nur Karneval und Copacabana, sondern auch Favela.
Rio de Janeiro ist nicht nur Karneval und Copacabana, sondern auch Favela.

Doch wie viel Realität zeigt diese Miniaturwelt wirklich? Ich habe die Ausstellung mit einem anderen Blick durchquert. Einem, der fragt: Wer ist sichtbar und wer nicht? Gibt es Menschen mit Behinderung? Queere Paare? People of Color? Szenen, die nicht nur Idylle zeigen, sondern auch soziale oder politische Spannung?

Gesucht: Vielfalt auf Augenhöhe

Ich habe gesucht und vereinzelt etwas entdeckt: Eine Person im Rollstuhl auf einer Brücke mit Treppen. Eine Regenbogenfahne auf einem Balkon. Ein Banner zur Rettung der Gletscher. Doch gemessen an der Grösse und Vielfalt der Modellwelt bleiben solche Szenen selten. Die Welt ist bunt, aber auffallend normiert.

Ein Rollstuhlfahrer auf einer Brücke mit Treppe. Sieht so Inklusion aus?
Ein Rollstuhlfahrer auf einer Brücke mit Treppe. Sieht so Inklusion aus?

Niklas Weissleder, Pressesprecher des Miniatur Wunderlands, erklärt: «Wir bemühen uns, alle Menschen abzubilden. Aber oft sind wir durch das Sortiment der verfügbaren Figuren eingeschränkt.» Einige Figuren gestaltet das Team selbst um, viele stammen jedoch aus Serienproduktionen. Welche Themen dargestellt werden, entscheidet sich nicht nach Plan, sondern entwickelt sich mit der Zeit. Ausgehend von einer Region, die Schritt für Schritt weiter ausgebaut wird.

Anspruch und Realität

Die Entwicklung ist deutlich sichtbar. Neuere Bereiche wie Monaco oder Rio wirken aufwendiger, detailreicher und mutiger als ältere Module wie die Schweiz oder Knuffingen. Offenbar hat sich auch der Blick auf die Welt verändert. Doch ein wirkliches Abbild gesellschaftlicher Realität entsteht dadurch nicht – oder nur in Fragmenten.

Im Miniatur Wunderland wird fleissig weitergebaut. Bis 2027 soll Südamerika fertig sein, danach folgt Asien.
Im Miniatur Wunderland wird fleissig weitergebaut. Bis 2027 soll Südamerika fertig sein, danach folgt Asien.

Gerade weil so viel gezeigt wird, fallen die Lücken umso stärker auf. Zwischen zehntausenden Figuren, hunderten Zügen und unzähligen Details wirkt es fast absurd, wie selten Menschen mit Behinderung zu sehen sind. Oder queere Paare. Oder People of Color. Oder Szenen, die Armut oder soziale Konflikte darstellen.

Gesellschaft im Nebenzimmer

Der deutlichste gesellschaftliche Kommentar steht nicht in der Hauptausstellung, sondern in einem Nebenraum. Dort zeigt eine Sonderausstellung dieselbe Strassenecke in Berlin – vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung. Eine Miniatur-Zeitreise durch politische Umbrüche. Oder verschiedene Dioramen der Tierhaltung, von Bio-Freiland bis Massentierhaltung. Es ist der einzige Bereich des Wunderlands, der Geschichte, Wandel und soziale Konflikte ausdrücklich erzählt. Und vielleicht ist es bezeichnend, dass diese Szenen nicht zur «Hauptwelt» gehören, sondern ausgelagert sind.

Massentierhaltung im Massstab 1:87. In einer Sonderausstellung sind auch kritische Szenen abgebildet.
Massentierhaltung im Massstab 1:87. In einer Sonderausstellung sind auch kritische Szenen abgebildet.

Ich frage mich: Wenn Modellbau so viel Wirklichkeit schafft, warum nicht auch diese?

Zwischen Fortschritt und Figurenvitrine

Der Wille zur Veränderung ist spürbar. Auch wenn viele Aussagen aus dem Presseteam allgemein bleiben, wird deutlich: Diversität ist gewollt. Doch der Weg dahin ist mühsam, kleinteilig und häufig durch verfügbare Mittel und Machbarkeit limitiert.

Vielleicht liegt genau darin der Kern. Wer Modelle baut, entscheidet, was sichtbar wird und was nicht. Es geht nicht darum, das Wunderland politisch aufzuladen, sondern darum, mehr von der Welt zu zeigen, die wir alle kennen. Mit allem, was dazugehört.

Das Miniatur Wunderland im Miniatur Wunderland.
Das Miniatur Wunderland im Miniatur Wunderland.

Fazit: Eine grosse Welt mit kleinen Lücken

Das Miniatur Wunderland ist kein politisches Museum. Es will begeistern, zum Staunen bringen, Kindheitserinnerungen wecken. Und das gelingt. Doch gerade weil diese Welt so genau, so liebevoll und detailverliebt gestaltet ist, stechen die Lücken umso mehr hervor. In einer Welt, die fast alles zeigt: Warum nicht auch jene, die oft übersehen werden?

Vielleicht braucht es im Massstab 1:87 einfach einen weiteren Blick. Eine Frage zum Mitnehmen: Wenn du deine eigene Miniaturwelt bauen würdest, wer wäre sichtbar?

Titelbild: Ramon Schneider

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Bezahlt werde ich dafür, von früh bis spät mit Spielwaren Humbug zu betreiben.

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