Olympia gibt den Geist auf
Hintergrund

Olympia gibt den Geist auf

Dabei sein ist alles? Oder alles andere als vernünftig? Die Olympischen Spiele erleben mitten in der Krise ihre grösste Krise. Und, bei Zeus, der Schlamassel fing schon in der Antike an.

Bevor es gleich Schlag auf Schlag geht, muss ich etwas ausholen. Eine gründliche Situationsanalyse gehört dazu. Worum geht’s? Olympia. Was ist der Markenkern? Eine Kultstätte in Griechenland und ein exklusives Bergressort für Funktionäre. Früher sass das einzig wahre IOC nicht in Lausanne, auch nicht im antiken Olympia, sondern auf dem Olymp. Ganze zwölf Götter durften sich damals ungestraft versammeln, zu ihren Ehren wurde bei den Spielen gerannt, gekämpft und geschwitzt. Und auch sonst war nicht alles schlecht. Der Familienclan des Zeus konnte schalten und walten wie er wollte, kritische Medien gab es nicht.

Homer ist für seine Hymnen auf die Götter bekannt, gehört eher zur PR-Abteilung. Herodot, der als «Vater der Geschichtsschreibung» gilt, war in der Frühphase der Olympischen Spiele, die ab 776 v. Chr. stattfanden, noch nicht einmal geboren. Heute würde er unter hero.com livetickern und Zeus dazu nötigen, wütend Blitze zu schicken.

Das Wort «Pandemie» ist ebenfalls griechischen Ursprungs und hatte damals vermutlich auch noch nicht so einen miesen Ruf. Nur weil etwas «das ganze Volk» betraf, musste es ja nicht schlecht sein. Im Hier und Jetzt ringen die modernen Herren der Ringe mit Corona und den Folgen.

Darstellung eines Nasen-Rachenabstrichs bei den Spielen um 500 v.Chr.
Darstellung eines Nasen-Rachenabstrichs bei den Spielen um 500 v.Chr.
Quelle: MatthiasKabel/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0

Die Idee der Olympischen Spiele ist ein gigantisches Business geworden. Tokio 2020 2021 absagen? Dann wären Milliarden versenkt. Die Ausrichter haben also ordentlich Feuer unter dem Hintern. Olympia ist zu einem Produkt geworden, das irgendwie ausgeliefert werden muss. Also brennen die Offiziellen weiterhin für die Idee, Athlet*innen aus aller Welt diesen Sommer in die japanische Megacity zu schicken.

Es ist schon so viel Geld geflossen. Offiziell, und, nach guter alter Tradition, vermutlich unter der Hand. Natürlich umwabert auch die Spiele von Tokio der Korruptionsverdacht. Ermittelt wurde gegen Tsunekazu Takeda, langjähriger Präsident des japanischen Olympischen Komitees und Urenkel des Kaisers Meiji. Zwei Millionen Dollar flossen angeblich in dunkle Kanäle. Vermutlich hielt auch die Familie Diack, zu der ich später noch komme, im Vorfeld wieder mal die Hand auf. Peanuts angesichts der horrenden Gesamtkosten, die traditionell vor allem der Ausrichter trägt. Also die auserwählte Stadt und das Gastgeberland.

Aus den für Tokio 2020 ursprünglich veranschlagten 11,3 Milliarden Euro ist schon locker das Doppelte geworden, die Verschiebung verschlingt weitere Milliarden und eine Absage könnte ein wankendes Sportsystem zum Einsturz bringen. Deshalb übertönt das Rattern der Geldzähler die Einwände derer, die zu bedenken geben, dass ein Riesen-Event wie dieses mitten in der Pandemie keine gute Idee ist.

Olympia NC 455, 300 notes (Geldscheinzähler)
181,27

Olympia NC 455, 300 notes

Geldscheinzähler

Olympia NC 455, 300 notes (Geldscheinzähler)
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Klatschen erwünscht, jubeln verboten

Der Fackellauf durch alle Präfekturen Japans soll in ein paar Wochen starten. Klatschen ist erwünscht, jubeln allerdings verboten. Das Feuer spannt den Bogen von der Antike bis heute. Und die olympische Geschichte war von Anfang an skandalös. Ursprünglich wurden die Flammen zu Ehren von Hestia entzündet. Einer Schwester des Zeus, die zunächst einen Platz im Olymp hatte. Überhaupt duldete Zeus nur Geschwister und Kinder in seinem Komitee und ist damit ein ideales Vorbild für alle Verbandsherrscher, die bis heute gerne auf familiäre Strukturen setzen. Über Zeus stand nur das personifizierte Schicksal, heisst es.

Männer wie Lamine Diack, der sich 16 Jahre lang den Leichtathletikweltverband IAAF untertan machte, gehen die Sache ähnlich an. Der 87-Jährige wurde vor ein paar Wochen zu vier Jahren Gefängnis wegen aktiver und passiver Bestechung, Untreue und bandenmässiger Geldwäsche verurteilt. Gemeinsam mit seinem Sohn hat er sich um verschwundene Millionen, vertuschte Dopingfälle und verkaufte Stimmen verdient gemacht, bis die französische Justiz Schicksal gespielt hat.

Nicht mal mehr IOC-Ehrenmitglied ist Diack. Allerdings wurde er nicht rausgeworfen, sondern trat vorher freiwillig zurück. Hestia, für die einst das Feuer entzündet wurde, erging es ähnlich. Nicht, dass sie korrupt gewesen wäre. Im Gegenteil. Die Göttin, zuständig für den Familien- und Staatsherd, verliess den Olymp unbescholten und angeblich ebenfalls aus freien Stücken. Vorher hat die arme Frau einiges durchgemacht. Vom Vater misshandelt, in die Küche verbannt, von Bruder und Neffe umworben, entschied sie sich genervt für die Enthaltsamkeit. Nur, um anschliessend fast vom besoffenen Priapos vergewaltigt zu werden. Zustände waren das damals. Wobei: Viel weiter sind wir ein paar tausend Jahre später immer noch nicht, wie die diversen Missbrauchsskandale in der olympischen Kernsportart Turnen zeigen.

In den USA, in der Schweiz, in Deutschland, in den Niederlanden kommen Fälle ans Licht, und diese Liste ist sicher nicht vollständig. Immer geht es um Machtgefälle, schwierige Strukturen und Anmassungen, wie damals bei Hestia. Es ist also verständlich, dass sie den Olymp verlassen wollte, als Streit um ihren Posten aufkam. Die Begründung, dass nicht genug Platz für alle sei, war sowieso scheinheilig. Von Kontaktbeschränkungen und Maximalbelegungen ist in der Antike nichts bekannt, auch wenn Hestia 1,5 Meter Abstand vermutlich ganz recht gewesen wären. Es hiess schlicht und einfach: «Dreizehn Götter? Nee, das geht nicht. Das bringt Unglück.» Vielleicht wurde sie doch mit einem gepflegten Fusstritt gegangen.

Jedenfalls gab die Beschützerin der Eintracht und Familien ihren Platz im Olymp ab, um einen Krieg zu verhindern. Und wer rückte nach? Ausgerechnet Dionysos, der Vater ihres Fast-Vergewaltigers Priapos. Dionysos, der Säufer. Ein Typ ohne besondere Fähigkeiten, natürlich auch er ein Sohn des Zeus. Der Mann hat, was der Olympischen Familie fehlt. Als Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase ist er der Prototyp des korrupten Sportfunktionärs.

Dionysos nach einem Gelage (Symbolbild).
Dionysos nach einem Gelage (Symbolbild).
Dionysos und seine Gefolgschaft: Weibliche Besessenheitskulte in der griechischen Antike (Deutsch)

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Drei Streifen durch die Rechnung

Mehr als 2000 Jahre später können die Götter nichts dafür, dass moderne Sportstrategen in ungeahnte Höhen aufgestiegen sind. Höchstens Nike, die Sneaker gewordene Siegesgöttin. Aber der Mann, der sich als erster daran macht, Business und Spiele für immer zu verschmelzen und dabei vor schmutzigen Methoden nicht zurückschreckt, ist ein völlig irdischer Horst. Horst Dassler, Sohn des Adidas-Gründers, macht dem edlen Grundgedanken der Spiele schon ab den 1950er Jahren drei dicke Streifen durch die Rechnung. Er gilt quasi als Erfinder der Sportkorruption und pumpt schwarzes Geld als Schmiermittel ins System. Ohne ihn hätte die Geschichte des IOC und der FIFA vielleicht einen anderen Verlauf genommen.

Vom Elsass aus, wo er zunächst Adidas France verantwortet, macht sich Horst Dassler die Sportwelt untertan. Im firmeneigenen Spitzenrestaurant «Auberge du Kochersberg» essen seine Gäste wie Gott in Frankreich. Es fliessen Wein und Informationen, die Grössen der Sportwelt verfilzen immer mehr. Die Spitzenfunktionäre schaffen sich über die Jahre ihren eigenen Olymp. Das System bringt Typen wie Chuck Blazer hervor. Die füllig-vollbärtige FIFA-Legende mit dem Spitznamen «Mister 10 Prozent» und zwei Appartements im Trump Tower – eines davon exklusiv für seine Katzen. Ein 2017 verstorbener Amerikaner, der bei den Olympischen Spielen in London Funktionärskollegen fürs FBI ausspähte, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Exzesse und Intrigen, an denen die antiken Götter ihre Freude gehabt hätten.

Das Feuer brennt also zu Ehren von Hestia. Aber die Asche greifen Typen wie Dionysos ab. Und ergraute Funktionäre verweigern sich Kraft ihres Amtes der Realität. «Egal, wie sich die Coronavirus-Pandemie entwickelt, wir halten die Spiele ab», liess sich der ehemalige Ministerpräsident und Olympia-Organisationschef Yoshirō Mori Anfang Februar dieses Jahres zitieren, als gerade die erste grössere Infektionswelle durch Japan schwappte. Ein paar Tage später war der 83-Jährige allerdings selbst schon Geschichte, weil er sich sexistisch über die Rolle von Frauen in Videokonferenzen geäussert hatte. Die würden, Skandal, immer alle sprechen wollen und nicht zum Punkt kommen.

Eine interessante Einstellung. Dabei zeigt die Geschichte, dass Frauen nicht gerade das olympische Hauptproblem sind. Im Gegenteil. Es sind Stimmen wie die von Hayley Wickenheiser, viermalige Olympiasiegerin und Mitglied der Athletenkommission des IOC, die Vernünftiges zur Debatte beitragen. Sie gehört zu denen, die es auch mal wagen, dem IOC die Meinung zu sagen und in Bezug auf die Spiele immer wieder auszusprechen, was selbstverständlich sein sollte: Wenn es nicht sicher geht, dann geht es eben nicht. Das hat sie schon vor einem Jahr getan – und die Götter waren nicht erfreut. Vom Olymp der Funktionäre gab es Tadel für die Frau, die im Rahmen ihrer medizinischen Ausbildung selbst in der Notaufnahme Dienst schob. Eine Woche später wurden die Spiele dann verschoben.

Fazit: Es ist alles nicht so schön. Weder die Geschichte noch die momentane Situation, in der die Impfstatistik so etwas wie der Medaillenspiegel für Regierungen geworden ist. Selbst wenn es die Spiele diesen Sommer tatsächlich gibt, werden sie nicht zum Fest. Was schade für die Athlet*innen und entlarvend für das Business im Zeichen der Ringe ist. Denn mit den Spielen ist es wie mit den antiken Göttern: Nur wenn genug an sie glauben, werden Exzesse verziehen. Ansonsten gibt Olympia bald endgültig den Geist auf.

Titelbild: Wikimedia Commons/Makaristos/gemeinfrei

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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