Warum jetzt mehr Platz für Velos gebraucht wird
Hintergrund

Warum jetzt mehr Platz für Velos gebraucht wird

Weltweit entstehen «pop-up bike lanes» über Nacht. Velofreunde wittern Morgenluft, was ihr Standing auf den Strassen angeht. Und die Schweiz? Verschläft die Chance, am grossen Rad zu drehen.

Stell dir vor, die Welt hätte ein gigantisches Umweltproblem. Der Klimawandel würde den Fortbestand der Menschheit gefährden. Die Innenstädte der Metropolen stünden vor dem Verkehrsinfarkt, weil sich zu viele Autos durch die Strassen quälen. Und deren Insassen vor dem Herzinfarkt, weil Übergewicht und Bewegungsmangel zu den gängigen Wohlstandsfolgen zählen. Und dann käme auch noch eine globale Pandemie dazu, die das Leben zum Stillstand bringt und alle zum Umdenken zwingt.

Wäre das nicht eine perfekte Gelegenheit, die Probleme endlich radikal anzugehen? Unter diesem Aspekt – und nur unter diesem – ist das Szenario fast zu schön, um wahr zu sein.

Es ist aber real.

Und weltweit nutzen Städte die Chance, die in der Krise steckt. Sie schaffen schnell und unbürokratisch Raum für Radfahrer*innen. Mit «pop-up bike lanes», die Parkflächen oder Fahrspuren vorübergehend in Velowege verwandeln. Die sichere Abstände und entspanntes Fahren ermöglichen. Kolumbiens Hauptstadt Bogotá räumte über 100 Kilometer für den Radverkehr frei. Von Mexico City über Vancouver, Mailand, Berlin und Paris erstreckt sich die Achse des guten Willens.

Ein Pop-up-Radweg in Berlin.
Ein Pop-up-Radweg in Berlin.
Quelle: Wikimedia Commons/Nicor

Londons Bürgermeister Sadiq Khan schreckt selbst vor grösseren Eingriffen in die Verkehrsadern der Stadt nicht zurück und Premier Boris Johnson spricht vom «neuen goldenen Zeitalter» für Velofahrer, das nun anbrechen könnte. In Zeiten, in denen die Menschen den öffentlichen Nahverkehr aufgrund der Ansteckungsgefahr meiden, steht so etwas wie der Endkampf um den Individualverkehr an. Ob ihn Autos oder Velos gewinnen, hängt von den Reaktionen der Kommunen ab.

Nach dem Shutdown kommt der Showdown

Rachel Aldred ist Professorin für Verkehrswesen an der Westminster University und geht in ihrem aktuellen Report davon aus, dass die tägliche Blechlawine in England und Wales um über eine Million Pendlerfahrten anschwellen könnte. Das ist das Negativszenario – wenn das Velo als Alternative jetzt nicht deutlich attraktiver wird. Die entsprechende Infrastruktur könnte dafür sorgen, dass Kurzstrecken unter zehn Kilometern künftig millionenfach häufiger zu Fuss oder auf dem Bike zurückgelegt werden. Folgerichtig macht die Regierung 225 Millionen Pfund für entsprechende Massnahmen locker. Sie sollen nicht nur die Strassen entlasten, sondern sich auch positiv auf die Gesundheit auswirken. Der Report legt nahe, dass sich allein durch das geänderte Bewegungsverhalten 500 vorzeitige Todesfälle pro Jahr verhindern liessen. Auch bei COVID-19-Infektionen gilt Übergewicht als grosser Risikofaktor für einen schweren Verlauf.

Es lassen sich also mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn jetzt die Weichen neu und richtig gestellt werden. Dafür braucht es keine Zukunftstechnologien, sondern vor allem eine gut 200 Jahre alte Erfindung: das Velo. Ergänzt um Technik von heute. E-Bikes sind ausgereift, erschwinglich und im Nahverkehr unschlagbar effizient. Mit den 55 kWh eines Tesla Model 3, der damit ungefähr 400 Kilometer weit kommt, sind locker 6000 E-Bike-Kilometer und noch viel mehr drin. Die Tretunterstützung hat das Velo für viele attraktiv gemacht, die vorher an der Topographie ihrer Umgebung gescheitert sind. Unverschwitzt und schnell ins Büro zu kommen ist kein Problem mehr, wenn der Motor mit 500 Watt nachhilft. Lastenräder befördern selbst einen Grosseinkauf nach Hause. Und Veloanhänger sind der komfortabelste Begleiter auf dem Weg in die Kita. E-Bikes haben ihr Image als Rentner-Mobil längst abgelegt und halten ihre Nutzer genauso gesund wie unmotorisierte Velofahrer – sofern sie nicht in einen Unfall verwickelt werden, was leider immer häufiger der Fall ist.

Die Schweiz steigt um

Auch die Schweizerinnen und Schweizer sind in den vergangenen Monaten vermehrt in den Sattel gestiegen. Das zeigt die MOBIS-COVID Studie, die zu den zurückgelegten Fahrradkilometern festhält: «Hier ist ein sehr grosser Anstieg zu beobachten, der deutlich über die zu erwartenden saisonalen Effekte hinausgeht.» Während des Lockdowns diente das Velo vor allem als Fitnessgerät. Doch auf dem Weg in die neue Normalität sollte es auch bei uns eine grössere Rolle spielen. Bislang gibt es dafür wenig spontane Unterstützung.

Die Velonutzung in der Schweiz ist sprunghaft angestiegen.
Die Velonutzung in der Schweiz ist sprunghaft angestiegen.
Quelle: MOBIS Covid19 Mobility Report

In der Medienmitteilung zum diesjährigen Welt-Velo-Tag am 3. Juni schreibt Pro Velo: «In der Schweiz haben bisher nur die Stadt und der Kanton Genf reagiert und provisorische Radstreifen installiert.» Die Forderung, die Gunst der Stunde für einschneidende Veränderungen zu nutzen, verhallt weitestgehend ungehört.

Andere Länder sind radikaler

Manche Städte handeln bereits länger nach dem Motto: «Wo ein Velo ist, ist auch ein Weg» – und das betrifft nicht nur staugeplagte Millionenmetropolen. In der belgischen 260.000-Einwohner-Stadt Gent ist die Innenstadt schon seit 2017 autofrei. Auch die Hauptstadt Brüssel wagt jetzt die «Vélorution» und erklärt den City-Bereich zur Vorrangzone für Radfahrer und Fussgänger. Beide Gruppen dürfen sich überall bewegen, auf dem Trottoir und der Strasse. Autos, Busse und Tram werden auf 20 km/h heruntergebremst. Ab 2021 gilt dann im gesamten Stadtgebiet Tempo 30.

Statt eine Revolution zu starten oder zumindest mal ein sofort sichtbares Zeichen zu setzen, geht bei uns die Politik der kleinen Schritte weiter. Die Kantone haben durch das Veloweg-Gesetz künftig die Pflicht, Velowege verbindlich zu planen und für ein zusammenhängendes und sicheres Velowegnetz zu sorgen.

Das ist schön, bleibt aber Zukunftsmusik, während andernorts spontan die extrabreiten Radwege aufpoppen und demonstrieren, wie sich die Zukunft anfühlen könnte. Unser Mobilitätsverhalten verändert sich jetzt. Damit dauerhaft mehr Menschen aufs Bike steigen, braucht es die Überzeugung, dass ein Veloweg mehr sein kann als ein schmaler Überlebensstreifen am Strassenrand. Sonst schliesst sich das Zeitfenster und der Autoverkehr schwillt weiter an. Nur ein einziges Mal wünsche ich mir, Boris Johnson möge Recht behalten. Nach der Corona-Krise das goldene Velo-Zeitalter – das wäre was.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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