Wellen à la carte im Wallis
Hintergrund

Wellen à la carte im Wallis

Bilder: Thomas Kunz

2021 ist, wenn du in den Bergen besser surfen lernen kannst als am Meer. In Sion rollen die Wellen auf Knopfdruck und machen nicht nur die Schweizer Surfszene glücklich. Ein Selbstversuch in der Alaïa Bay.

Irgendwas fehlt. Irgendwas fehlt doch hier, und es ist nicht das Meer. Wer würde das schon erwarten, in Sion. Mein Blick geht hinauf zum schneebedeckten Mont Gond in den Berner Alpen, schweift über die A9, deren Rauschen sich mit entspannten Klängen von Boubacar Traoré vermischt, die aus den Lautsprechern auf der Panoramaterrasse dringen. Hängen bleibt er an einem keilförmigen Pool. Alaïa Bay wirkt, wie aus dem Tortendiagramm geschnitten.

Der neue Wellengarten des Wallis fasst 13 000 Kubikmeter Wasser, die in Bewegung versetzt Surfträume wahr werden lassen sollen. Dafür wurde geklotzt, nicht gekleckert. Wie viel Geld genau in der Anlage steckt, will Adam Bonvin nicht sagen. «Ich wollte die Wellen dorthin bringen, wo ich lebe», sagt der Initiant des Projekts und Co-Founder von Alaïa, dessen vor sechs Jahren bei einem Surftrip nach Hossegor entstandene Fantasie hier wahr geworden ist. Im schwarzen T-Shirt, gut gebräunt und mit Ballonmütze strahlt er dieselbe Sonnenbrillenlässigkeit aus, die die ganze Anlage umgeben soll. Wen interessieren schon konkrete Zahlen, wenn es verwirklichte Visionen zu bestaunen gibt.

Adam Bonvin hat nun, was er wollte: Wellen vor der Haustüre.
Adam Bonvin hat nun, was er wollte: Wellen vor der Haustüre.

Es fehlt offensichtlich nicht an Geld, irgendwann fliegt die grobe Hausnummer von 20 Millionen Franken durch den Raum, der mit Medienvertretern und Teilen der internationalen Surfszene gefüllt ist. Die Summe reicht für schicke Lampen und Fusion Kitchen, für ein Paradies vom Reissbrett, perfekt geplant bis hin zu den riesigen Waschmaschinen, die 120 Wetsuits pro Stunde schaffen. Alles neu, alles hochwertig, mit viel Sichtbeton, Glas und Holzverkleidung. Das komplette Paket Modernismus, es könnte überall auf der Welt stehen.

Rund um die Attraktion wurde die logische Infrastruktur gezimmert: Ein Restaurant samt Aussichtsterrasse, ein Surfshop, die Surfschule und «La Factory», in der sich Shaper Carlos Lopez den Brettern widmet.

Shaper Carlos Lopez in seinem Reich.
Shaper Carlos Lopez in seinem Reich.

Der «Magic Room» ändert alles

Und trotzdem fehlt etwas. Strandgefühl lässt sich nicht in die Alpen verpflanzen, denke ich beim Rundgang, der mit einem Blick in den «Magic Room» endet. Wenn hier die richtigen Knöpfe gedrückt werden, gibt es, worüber bislang nur geredet wurde: Wellen. Wellen à la carte. Das Menü umfasst 20 speziell programmierte Arten, bis hin zur Tube.

Ganze zwei Monate wurde an den Einstellungen getüftelt, um Grösse, Form, Kraft und Frequenz aufeinander abzustimmen. Bislang ist das blosse Theorie. Sie fehlen, das Wasser ist still. Dabei geht es im Grunde nur um sie. Ohne Wellen gesehen zu haben, sollte ich mir kein Urteil über diesen Ort erlauben.

Endlich tut sich was!
Endlich tut sich was!

Die Gewalt des Wassers

Sobald leibhaftige Wellen durch den Pool rollen, verwandelt sich die Atmosphäre. Ich spüre es schon im Gebäude. Als das grosse Rauschen beginnt, drehen sich die Köpfe zum Fenster, der Pressepulk stolpert hastig die Treppe hinunter nach draussen. Augen zu, schon beamt mich das Kopfkino ans Meer. Die Gewalt des Wassers übertönt die Autobahn und spült alles, was ablenkt, aus dem Sinn. Nichts wirkt mehr steril, sobald die Show beginnt.

Zum Auftakt dürfen sich Pros und Promis hier austoben. Demonstrieren, was möglich ist, für spektakuläre Bilder sorgen. Und das tun sie. Pfiffe und Jubelschreie durchdringen die künstliche Brandung, gelungene Aereals werden gefeiert. Das Lächeln auf den Gesichtern ist echt, es kommt mit den Wellen, quasi auf Knopfdruck.

Die vereinzelt auf der Autobahn vorbeiziehenden Lastwagen wirken hinter fliegenden Surfern deplatziert, wie eine Fata Morgana. Egal, der nächste Take-Off, der nächste Tuberide, die nächste Könnerin ist unterwegs. Ich stelle mich auf den Steg in der Mitte, der die Poolhälften teilt und zum Geheimnis der Wellentechnik führt, bin direkt im Geschehen und sehe Manöver, die ich so nah nur von YouTube kenne. In der linken Hälfte des Pools wird goofy gesurft, rechts vom Steg regular, die Wellen sind in beiden Teilen gleich. 46 elektromagnetisch bewegte Module sorgen dafür, dass sich ein identischer Wasserberg nach dem anderen bildet.

Es ist eine Trainingsmöglichkeit, wie es nur wenige auf der Welt gibt: Die Anlage in Sion ist erst die vierte dieser Art, und, das ist wohl nicht übertrieben, ein Meilenstein für den Surfsport in der Schweiz. Sie ist perfekt für Lehrgänge, ein Spielplatz für Könner und geschützte Umgebung für Neulinge. Sie ist alles, was das offene Meer nicht ist. Berechenbar und kontrollierbar. Mit entsprechenden Einstellungen im «Magic Room» wird aus dem zwei Meter hohen «Beast» wieder eine kleine Welle, so können direkt nach den Pros auch Anfänger ins Wasser. Mein Stichwort.

Surr... die Welle kommt

«Hi guys», grüsst ein Unbekannter mit spanischem Akzent in der Umkleide, wo ich mich in den Neoprenanzug schäle. Ein bisschen Small Talk und es stellt sich heraus, dass er für Wavegarden arbeitet. Die baskische Firma, deren Technik für die Wellen sorgt, in die er sich selbst gleich zum ersten Mal stürzen will. Jede Anlage sei anders, was nicht nur am Wellenmenü liege. Er schwärmt von der Alpenkulisse.

Ich werde sie vergessen, die Umgebung wird total egal sein, im Wasser gibt’s genug zu beachten. Und es wird intensiv. Wer durchzieht, erwischt in einer Session fünfmal so viele Wellen wie im Meer, heisst es. Sie brechen von der Aussenwand nach innen, dort führt ein Channel zurück ins Line-Up. Lange Pausen gibt es nicht, denn jede Welle ist perfekt. Soweit die Theorie. In der Praxis entsteht schnell ein Rhythmus.

Das bin ich!!! Leider nicht.
Das bin ich!!! Leider nicht.

Im Line-Up

Erst kommt die S-Bahn. Zumindest klingt es so, wenn die Module der Anlage zu arbeiten beginnen, sich und das Wasser in Bewegung versetzen. Ein leises Surren dringt aus dem Bauch der gewölbten Konstruktion neben mir, die an ein Gewächshaus erinnert. Dann schwillt der Wasserberg an, hebt und senkt mich in der Dünung, zieht vorüber. Es gibt keine Hektik, kein Gedränge, keine überraschend früh brechenden Wellen. Im Gegenteil, es gibt sogar Markierungen.

Ein paar Paddelschläge sind es bis auf Höhe der Nummer 9 an der Aussenwand, wo ein Coach mich in Position dirigiert. Alles ist orchestriert, hier wird die Welle brechen, nun kommt es auf mich an. Paddeln, paddeln, paddeln, Blick nach vorne, Oberkörper hoch – spätestens jetzt ist es egal, ob das hier Meer oder Pool ist, die Welle will gesurft werden. Take-off. Fokus. Tief bleiben. Geniessen. Oder stürzen.

Aber das bin ich.
Aber das bin ich.

Beides passiert, auf erste Erfolgserlebnisse folgen ein paar Nosedives. Egal, dann halt nochmal. Das Spiel mit den Elementen funktioniert schneller, wenn die Regeln menschengemacht sind. Da kommt die perfekte Welle. Da auch. Da auch. Es gibt keine Ausreden. Nur den Ehrgeiz, etwas zu lernen. Und viele Möglichkeiten, es besser zu machen. Im Laufe der Session werden die Wellen grösser, die Tipps konkreter und die Arme schwerer. Es ist anstrengend.

Trotzdem zieht es mich immer wieder zurück. Nach einer Stunde im Wasser bin ich müde, aber glücklich. Zum ersten Mal seit über einem Jahr ist das Wort «Welle» für mich heute positiv besetzt. Ganz klar: Alaïa Bay ist kein Ersatz für den Trip ans Meer, aber das Wellenmenü ist ein echter Leckerbissen für die Schweizer Surfszene. Wenn überhaupt etwas fehlt, dann eine Prise Salz.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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