
Meinung
Sommer, Sonne, Abenteuer? Nein danke!
von Debora Pape

Sobald sich die Blätter gelb färben und der Pullover her muss, weiss ich: Der Winter kommt. Und mit ihm mein halbjährliches Laune-Tief. Aber diesmal mache ich’s anders!
Wo sich früher das Glitzern der Weihnachtsbeleuchtungen in meinen Augen spiegelte, herrscht heute nur noch ein trüber Schleier umrahmt von müden, tief dunklen Ringen. Der Winter hat mich gebrochen. Vor vielen Jahren schon. Aber in diesem Jahr hol ich mir meine Freude zurück. Jetzt hab ich’s gesagt, Leute.
Nichts übertraf meinen heiligen Dezember. Geschmückter Tannenbaum und selbstgenähte Adventskalender-Säckchen, die an der Treppe zwischen Fichtenzweigen baumeln – und der süsse Duft von frisch gebackenen Zimtsternen, der sich in der ganzen Wohnung ausbreitete. Meine Mutter verstand es, den Advent zum Leben zu erwecken.
Ich sass jeweils am Fenster, schaute in die Weite, hörte dem Gequassel meiner Lieblings-Cartoons in der Weihnachtsspecial-Folge zu und hoffte auf die erste Schneeflocke. Ich fühlte mich, als wäre ich einunddreissig Tage lang in Watte gepackt. Und dann kam das grosse Highlight: die Familie am festlich gedeckten Tisch, das gute Essen, die Geschenke. Ich zählte die Tage bis dahin.
Die Welt war in Ordnung.

Das erste Mal stand ich während der Lehre mit dem Winter auf Kriegsfuss. Eineinhalb Stunden Pendelweg, zweimal am Tag, fünfmal die Woche. Arbeitsbeginn: 7.30 Uhr. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, aber das war gefühlt Schikane. Ich ging aus dem Haus, es war dunkel. Verliess abends das Büro – wieder dunkel. Nur Arbeit, Kälte und Dunkelheit.
Und am Wochenende – Hochnebel.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass nicht der Winter der wahre Feind ist, sondern dieses graue, schwere Tuch, das sich in der kalten Jahreszeit vor die Sonne legt. «Dieser scheiss Hochnebel. Wieso verzieht er sich nie?», waren meine Gedanken. Die Wetter gewordene Schwermut. Nicht wie Regenschauer oder Sturm. Nein. Das geht vorbei. Aber der Hochnebel, der kommt scheinbar, um zu bleiben. Für immer.
Akzeptieren wollte ich den Stadt-Winter nicht. Grauer Beton, grauer Schnee, graue Nebeldecke. Grau, grau, grau. Ich zeigte dem Winter die kalte Schulter und verzog mich stattdessen in den Untergrund. In Clubs, wo es weder Tag noch Nacht gibt. Dort konnte mich kein Trübsal in Form einer Wolkenschicht herunterziehen. Höchstens am nächsten Morgen, wenn ich zusammen mit den letzten Gästen und den herumliegenden Scherben aus dem Raum gewischt wurde. Dann erwartete mich die Monotonie, die keinen Schatten zulässt. Aber ich verzog mich ins Bett und schlief den Rest des Tages durch.
Diesen Fluchtplan verfolgte ich für ziemlich lange Zeit. Und klar, das alles machte mich noch schlapper als ich schon war. Und ja, latente Müdigkeit ist bekanntermassen Gift für gute Laune, aber Alternativen wie «mindestens eine Stunde am Tag im Wald, Skifahren oder ein Ausflug an die Sonne» lagen in einer normalen Arbeitswoche bei mir nicht drin.
Also gelangte ich in einen Strudel von einer immer grösser werdenden Abneigung gegen den Winter.
Manchmal ertappte ich mich schon im August dabei, wie ich dem Sommer nachtrauere. Statt den Moment zu geniessen, schmiedete ich Pläne, wie ich mein Leben so umkrempeln kann, dass ich von November bis März in den Süden kann. Oder vielleicht eröffne ich endlich ein Grotto im Tessin, wo die Sonne auch im Winter scheint, das wäre doch was. Leider spreche ich kein Italienisch. Aber vielleicht reicht auch schon eine Wohnung in Graubünden. Aha, dort verschwindet die Sonne meist genau so früh hinter den Hügeln wie hier. Mist.

Egal wie ich es drehe und wende: Der einzige Weg, die kalte Jahreshälfte zu überstehen, ist sie zu akzeptieren.
Und gerade die frühe Dunkelheit zwingt einen dazu, sich etwas Sinnvolles für die Stunden drinnen zu überlegen. So sitze ich um zehn nach fünf Uhr nachmittags – während der angebliche Sonnenuntergang schon vorbei ist – und recherchiere nach realistischen Beschäftigungen, für die sich der Winter besonders gut eignet.
Und werde sogar fündig.
Die Ratgeber schlagen Tipps wie Winterspaziergänge und Treffen mit Freunden vor. Okay, das höre ich nicht zum ersten Mal. Aber gut, das sind machbare Aktivitäten. Ausser, ich habe einen Durchhänger. Dann fallen mir auch diese Dinge schwer. Mittlerweile ist es draussen stockfinster. Und da bleiben an der Zeile vom nächsten Ratschlag hängen: «Mach es dir zuhause richtig gemütlich, geniesse die Zeit, in der draussen niemand etwas verpasst, und lass dich auf die Ruhe ein.»
Nichts tun? Gar nicht so einfach für mich.
Trotzdem löst der Ratschlag etwas in mir aus. Ein Drang überkommt mich: das grosse Licht aus, zwei Kerzen an, die erstbeste Winterjazz-Playlist auf YouTube starten. Dann lehne ich mich hinter meinem Computerbildschirm zurück und sehe zu, wie sich das Kerzenlicht an der Fensterscheibe spiegelt. Die Strassenlaternen werfen weiches Licht auf die Strassen. Ein Pärchen läuft Hand in Hand vorbei, ihre Mäntel hochgeschlossen.

Ich spüre, wie ein warmes Gefühl durch mich hochsteigt. Vielleicht braucht es manchmal ein bisschen Kitsch, um den eigenen Zynismus zu brechen. Zum ersten Mal seit Langem wirkt der Winter nicht wie ein Gegner, sondern einfach wie das, was er ist: eine Pause. Ein Zwischenraum, bevor alles wieder losgeht.
Vielleicht reicht das ja schon.

Die Wände kurz vor der Wohnungsübergabe streichen? Kimchi selber machen? Einen kaputten Raclette-Ofen löten? Geht nicht – gibts nicht. Also manchmal schon. Aber ich probiere es auf jeden Fall aus.
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