Das Dilemma mit den sozialen Medien oder Schachmatt der Menschheit
Meinung

Das Dilemma mit den sozialen Medien oder Schachmatt der Menschheit

Der Netflix-Film «The Social Dilemma» rechnet gnadenlos mit Facebook und Co ab. Soziale Medien begraben die Demokratie und führen über kurz oder lang zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Dies sind zwei der dystopischen Thesen des 90-minütigen Doku-Dramas.

Rückblende: Es war an einem milden Frühlingstag im Mai. Draussen schien die Sonne, drinnen tobte der Hass. Auf Facebook gaben sich Gegner und Befürworter der Corona-Massnahmen Saures. Und ich löschte meinen Account.

Schwarz oder weiss

Entweder du bist ein Covidtrottel oder eine Coronaleugnerin. Entweder Bill Gates ist der Teufel oder der Messias. Entweder Corona ist nichts weiter als ein Schnupfen Deluxe oder das ultimative Killervirus und somit das Ende der Menschheit. Je nachdem. Dazwischen nichts.

Jeder und jede hat eine Meinung und verbreitet sie im Netz. Meistens mit Links zu «Experten», die die eigene Meinung vermeintlich wissenschaftlich und datenbasiert unterstützen. Fazit: Meine Meinung ist die einzig wahre Meinung und wer sie nicht teilt, ist ein Idiot. Ersetze Corona durch Klimawandel und Bill Gates durch Greta Thunberg. Das Resultat ist das Gleiche. Im Mai wurde mir das rechthaberische Gezanke zu blöd und ich löschte meinen Facebook-Account.

Nichts Grosses hält ohne Fluch Einzug in die Welt der Sterblichen.
Sophokles

Was war nochmal die Idee von Facebook und Co?

Social Media. Die Plage des 21. Jahrhunderts. Dabei ging es doch ursprünglich mal darum, mit seinen Freunden in Kontakt zu bleiben. Oder habe ich da was falsch verstanden? Was macht eigentlich Beat aus der sechsten Klasse heute so? Ach, der lebt jetzt mit Andrea in Kanada und betreibt dort ein Bed & Breakfast. Die waren schon damals zusammen. Das ist ja interessant. Und hier noch ein lustiges Katzenvideo. Daumen hoch.

Wann und wie ist Social Media zur Geissel der Menschheit mutiert? Auf Netflix läuft seit Kurzem ein Film, der die Antwort liefert. In «The Social Dilemma» zeichnen ehemals wichtige Mitarbeiter*innen von Google, Facebook und Co eine düstere Zukunft. Nichts weniger als bürgerkriegsähnliche Zustände und den Zusammenbruch der Demokratien sagt die Doku voraus. Trotzdem wird der Trailer dazu auch auf Youtube gezeigt. Ironie.

Wie konnte es soweit kommen?

Diese Frage steht am Anfang des Doku-Dramas. Was ist das Problem mit Social Media? Eine Antwort kommt von Tristan Harris, ehemaliger Design-Ethiker bei Google: «Nie zuvor hatte eine Handvoll Technologie-Designer eine solche Kontrolle darüber, wie Milliarden von uns denken, handeln und leben.»

Und Geld. Natürlich. Es geht ums Geld. Welche Rolle wir dabei spielen? Nun, wenn du für das Produkt nichts bezahlst, bist du das Produkt. Das Businessmodell dieser Firmen besteht darin, uns möglichst lange am Bildschirm zu halten. Wie viel Lebenszeit geben wir Facebook und Co und den Werbetreibenden, die dafür bezahlen, dass wir uns ihre Anzeigen anschauen? Informatiker und Autor Jaron Lanier geht im Film noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: «Die allmähliche, geringe, unmerkliche Veränderung von Verhalten und Wahrnehmung ist das Produkt.»

Damit verdienen soziale Medien ihr Geld. Sie ändern, was wir tun, wie wir denken und wer wir sind. Dabei geht es nicht darum, möglichst viele Daten zu sammeln, um diese anschliessend an den Meistbietenden zu verkaufen. Es geht darum, Modelle zu entwickeln, die unsere Handlungen voraussagen. Und wer das beste Modell hat, gewinnt. Auch gern mal eine Präsidentschaftswahl. Was das mit der Welt macht? Well, take a look around.

Willkommen in Dystopia

Es war an einem milden Spätsommerabend im September. Draussen funkelten die letzten Strahlen der Abendsonne auf dem Asphalt. Drinnen lief der Abspann der Netlix-Dok «The Social Dilemma».

Jeder und jede findet in den sozialen Netzwerken die eigene Meinung bestätigt. Alles andere sind Fake News. Wenn wir aber keine gemeinsamen Fakten mehr haben, sind wir geliefert. Schachmatt. Die Folge: Bürgerkriege und der Zusammenbruch der Demokratien. So lässt sich der Film zusammenfassen.

Gibt es einen Ausweg? Die Protagonisten versuchen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie wir der Social Media-Falle entkommen können. Melde dich von allen sozialen Netzwerken ab, lege das Smartphone zur Seite und geh raus ins echte Leben, lautet in etwa der simple Tenor der Statements. Kann das funktionieren? Auf der einen Seite die reichsten und mächtigsten Unternehmen, auf der anderen wir, die Produkte. Die Legehennen, die plötzlich entscheiden, keine Eier mehr zu produzieren. Ich bin skeptisch. Aber hey, was habe ich schon zu verlieren? Nächster Punkt auf meiner Social-Media-To-Undo-List: Meinen Instagram-Account löschen. Dann geht es WhatsApp an den Kragen und so weiter.

Ich muss hier raus.
Ich muss hier raus.

Man kann dem Streifen von Regisseur Jeff Orlowski vorwerfen, er sei einseitig und unausgegoren. Tatsächlich geht es vornehmlich um eine Dystopie und weniger um ein Dilemma. Die Vorzüge von Technologie werden während den 90 Minuten praktisch totgeschwiegen. Hinzu kommt, dass ausgerechnet Netflix die Doku produziert und ausstrahlt. Auch ein Konzern, der massenhaft Daten sammelt und uns möglichst lange auf einen Bildschirm starren lassen will. Das widerspricht der Botschaft des Films. Mein Eindruck: Orlowski will mit «The Social Dilemma» aufrütteln und eine gesellschaftliche Diskussion zu Social Media lancieren. Ausgewogenheit scheint da nicht das Mittel der Wahl zu sein und der Zweck heiligt die Mittel. Es sei ihm verziehen.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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