Der Gratwanderer
Hintergrund

Der Gratwanderer

Zwischen Bar und Bergen, Auenland und Apokalypse im Appenzell. Ein Tag mit dem Abenteurer und Outdoor-Freak Ruedi Gamper. Für ihn ein Spaziergang, für Fotograf Tom und mich ein Höllentrip ins Paradies.

«Habt ihr noch andere Sachen dabei?», fragt Ruedi nach einem schnellen Scan unserer Ausrüstung. Wir sind in der Südbar mitten in St. Gallen und die Gesamtsituation ist absurd. Es ist eine Art Blind Date in Outdoorkleidung, denn Ruedi Gamper und wir sind uns vorher nie begegnet. Es gab ein paar Telefonate, das schon. Und die Idee, gemeinsam loszuziehen. In die Berge, aufs Wasser, mit dem Gleitschirm.

Alltag für Ruedi, hochfliegende Pläne für Fotograf Tom und mich. Nun stehen wir uns vor einer Spirituosenwand leibhaftig gegenüber. Ruedi, 36 Jahre alt, gross gewachsen, die ausdefinierten Schultern des passionierten Paddlers. Dazu Käppi, Bart und ein hellwacher Blick. Er ist der Typ, den wir erwartet hatten. Einer, dem du die Himalaya-Expedition abnimmst. Der Berge besteigt, im Kajak durchs Wildwasser pflügt und mit dem Gleitschirm quer durch Europa fliegt.

Gilt das schon als Outdoor-Erlebnis? Mit Ruedi im «Südgarten» vor der Bar.
Gilt das schon als Outdoor-Erlebnis? Mit Ruedi im «Südgarten» vor der Bar.

Zwei neue Flaschen in der Bar

Wir wirken verkleidet. Meine Stiefel eine Spur zu neu, Toms alte Treter in Südostasien ausgelatscht, aber alles andere als bergtauglich. Ich hatte uns nicht als Hochalpinisten angepriesen. Aber ein wenig mehr als zwei Typen, die alles was nach «outdoor» aussieht in einen Rucksack gestopft haben, hat Ruedi wohl schon erwartet. Für einen Moment fühlen wir uns wie die zwei grössten Flaschen in der Bar. Die Irritation verfliegt, als er sein Lächeln anknipst und Kaffee ordert.

Planänderung eines Plans, der nie wirklich existierte.

«Ich glaube, auf Ruedi müssen wir uns einfach einlassen», hatte ich zu Tom gesagt, als er es im Vorfeld mal wieder genauer wissen wollte. Genau wie er auf uns. Wir gehen ins Appenzell, den Rest sehen wir, wenn’s soweit ist. Jetzt ist es soweit. Warum unser Outdoor-Trip in einer Bar beginnt? Weil Ruedi hier der Chef ist.

Der Mann lebt zwischen Bar und Bergen, Whiskey und Wildwasser. Er hat prallvolles Leben. Und einen VW-Bus, in den er uns packt. Wir sind dann mal Out of Office und fahren ins Graue. Das Juniwetter ist so diffus wie unsere Vorstellung von dem, was uns erwarten wird.

Der Appenzeller Action-Botschafter

Erst mal ist es eine Milchschnitte, die Ruedi uns nach einem Tankstopp zuwirft. Dazu gibt’s Geschichten aus aller Welt, während am Rückspiegel neben dem Wunderbaum, Duftnote «Frühling», allzeit griffbereit die Snowboardbrille baumelt.

Jahreszeiten sind nebensächlich, denn es geht um Expeditionen, Auszeiten, Abenteuer auf allen Kontinenten. 72 Dreitausender hier, ein Paddel-Rekord dort. Ruedi sammelt Eindrücke und extreme Erlebnisse wie andere Kaffeetassen. Stürzt sich mit dem Kajak in die Wasserfälle der Urnäsch, auf dem Snowboard in Steilhänge oder hebt ab.

Das Fliegen ist seine jüngste Leidenschaft. Die Flugschule, an der wir vorbeifahren, wirbt mit seinem Gesicht. Er ist eine Art Action-Botschafter des Appenzell. Und trotzdem, das ist zu spüren, hat er kein Problem mit einer kleinen Tour wie dieser. Weil er neugierig auf Menschen ist und es einfach geniesst, in der Natur zu sein.

Wir halten an der Ebenalpbahn in Wasserauen, bekommen ein Ticket in die Hand gedrückt und werden an der Bergstation wieder ausgespuckt. Viel weniger Abenteuer geht nicht. Viel weniger Sicht geht kaum. Vielleicht wäre es keine Schnapsidee gewesen, einfach in der Bar zu bleiben.

«Mein persönlicher Auenweg»

Hier oben, auf 1640 Metern über Meer, ist dieser Junitag nicht nur grau, sondern auch empfindlich kühl. Bis auf den Schäfler ist es ein besserer Spaziergang von etwa einer Stunde, auf dem noch knapp 300 Höhenmeter zu überwinden sind. Für viele ist er eine Durchgangsstation auf dem Weg zum Säntis.

Was unser Ziel ist, erschliesst sich mir immer noch nicht ganz. Für die Route ist Ruedi zuständig, der zunächst mal ein Motto für uns hat: «Schaut, das müsst ihr fotografieren», sagt er und deutet mit dem Stock auf die Inschrift im hölzernen Wegweiser.

«Wer sich kein Ziel steckt, wird nach den ersten Schritten müde aufgeben.»

Ein Bergerlebnis. Wenigstens einmal die Sonne sehen. Und mit dem Gefühl heimkommen, dass sich dieser Trip gelohnt hat, denke ich mir. Bescheidene Ziele. Klick. Tom verewigt den Spruch und wir marschieren los. Drei einsame Wanderer auf dem Weg nach oben, wo es vermutlich nicht viel zu sehen gibt.

Hier wäre dann die Aussicht.
Hier wäre dann die Aussicht.

Nach den ersten Schritten kommt uns eine Seniorengruppe entgegen. Ruedi grüsst freundlich, tauscht sich aus, fragt nach der Lage. Offen, zugewandt und ehrlich interessiert. Er wirkt wie ein Gastgeber, der sich über jeden Besucher «seiner» Region freut. Bis zum Gipfel, vor dem die wackere Truppe kehrtgemacht hat, wird uns niemand mehr begegnen.

Da sind nur wir, der Pfad und ganz viel Natur. «Das ist mein persönlicher Auenweg», sagt Ruedi, während unser Puls steigt und feuchte Bergluft in die unsere Lungen strömt. Wir sind allein und tauchen mit jedem Schritt ein wenig mehr in die mystische Stimmung ein. Schöne Aussichten sind überbewertet.

Das Büro im Berg

Ich bin diesen Weg schon mal gegangen. Bei Prachtwetter und brav dem Wanderpfad folgend. Es gab viel zu sehen und war traumhaft schön. Heute laufen wir in die Nebelwand, die zur Leinwand für Ruedis Geschichten wird. Ab und zu verlassen wir den Weg, klettern in zerklüftete Felsspalten und stehen vor dem Nichts.

Ruedi erzählt von 45 Grad Gefälle und «first lines», die er mit dem Snowboard in frischen Schnee gezogen hat. Von Aussichten und Abgründen im Alpstein. Wir malen uns aus, was es bedeutet, sich den unsichtbaren Abhang hinunterzustürzen.

Die Berge machen etwas mit diesem Mann. Immer wieder blitzt eine Begeisterung in seinem Gesicht auf, die kein Mensch spielen kann. Es ist, als käme das grosse Kind in ihm für einen Moment zum Vorschein. Er sieht die Möglichkeiten, wir die Gefahren zum Glück nicht. «Achtung, da geht es 400 Meter runter», sagt Ruedi beiläufig, während er mit sicherem Griff den nächsten Felsvorsprung erklimmt und sich entspannt zurücklehnt.

«Das ist mein Büro! Hier habe ich auch den Plan für die Bar entworfen», ruft er uns zu. Es sieht so spielerisch leicht aus. Ein herabrieselnder Stein erinnert klackernd daran, dass wir uns an dieser Stelle keinen Fehltritt erlauben können. Tom und ich treten den geordneten Rückzug an.

Perfektes Freilufttheater

Während Ruedi uns mit Anekdoten eindeckt und nebenbei die Wetterlage checkt, sind wir längst in unserem eigenen Film. Die Bedenken sind verflogen, der ausgetretene Pfad ist vergessen und links liegen gelassen. Es geht auf Abwegen dem Gipfel entgegen, als die Sonne immer mehr durch den Nebel drückt.

Ruedi zieht das Tempo an und joggt mit federnden Schritten das letzte verbliebene Schneefeld hinauf. Dann reisst der Himmel auf.

Wir stehen auf dem Schäfler, atmen durch und geniessen das perfekte Freilufttheater. Ständig eröffnet sich eine neue Perspektive, ragen Gipfel ins schönste Junihimmelblau, bevor der Wolkenvorhang fällt und ein neuer Akt beginnt. Aus der Ferne grüsst der Säntis. Timing ist alles im Leben.

Am Abgrund

Es sind perfekte Momente ohne den Grauschleier, der uns bis hierhin begleitet hat. Ein Geschenk für Fotograf Tom, der einige davon einfängt. Während Ruedi schon den nächsten Abhang hinunter spaziert, sitze ich einfach da, wage mich nicht weiter und denke nichts, weil alles stimmt. Die Situation saugt mich auf.

«Hörst du die Geissböcke?», ruft Ruedi, der unter mir am Abgrund sitzt. Tatsächlich, es klappern Hufe über die schroffen Felsen, während über uns Bergdohlen kreisen. Ruedi hat Brot mitgebracht, oft fressen sie ihm aus der Hand. Heute nicht, vielleicht ist es ihnen zu windig.

Oder die Drohne irritiert, die filmend über dem Grat im Wolkenmeer surrt und den Augenblick zerstört. Ganz allein sind wir hier oben doch nicht.

Einen Schritt weiter

«Da sind wir mal für einen Werbedreh drüber gejoggt, das gab geile Bilder», sagt Ruedi mit Blick auf den Grat und ist schon unterwegs, vorbei am Schild «ab hier nur für geübte Berggänger», das Tom und ich schlicht übersehen.

Während Ruedi am Abgrund spaziert, das Leben geniesst und für die Kamera posiert, tasten wir uns auf allen Vieren ein paar Meter voran. «Meine Frau bringt mich um, wenn sie das sieht», höre ich von hinten und sehe Tom leicht verkrampft am Objektiv hantieren.

Für ihn ist es ein spezieller Job auf ungewohntem Terrain, den er in weiser Voraussicht mit der kompakten Fujifilm x-e3 in Angriff genommen hat. Vor seiner Linse steht ein mit allen Wildwassern gewaschener Mann, der sich in seinem Blog nicht nur als Kajakfreak, Snowboarder, Barkeeper, Lausbuub und Weltenbummler vorstellt, sondern auf seinen Abenteuern selbst ambitioniert fotografiert.

Während Ruedi auf dem Grat steht und als Yogi einbeinig den Baum macht, klammert sich Tom an den Gipfel dieser Tour und schiesst seine Bilder. Höher hinaus gehen wir nicht mehr, aber der Höhepunkt sollte noch vor uns liegen.

Zurück ins Grau

Nach einem Essen im Berggasthaus Schäfler tauchen wir wieder ins gewohnte Grau ein. Die Mägen sind gefüllt, die Speicherkarten auch. «Jetzt könnt ihr sagen, dass ihr eine Hochtour gemacht habt», sagt Ruedi. Alle Bedürfnisse sind befriedigt. Ein kleines Nachmittagstief bahnt sich an. Wir queren sulzige Schneefelder und waten durch Pfützen auf matschbraunen Wegen.

Nichts erinnert mehr an das blauweisse Spektakel von eben und jeder Schritt führt ein bisschen mehr zurück in den Alltag. Wenn da nicht Ruedi wäre, der lachend auf dem Drahtseil balanciert, an dem wir uns festhalten, hätte ich mit der Tour schon fast abgeschlossen.

Hat er nicht was von Schneefeldern und rutschen gesagt? Das hört sich gut an. Zunächst aber gibt es etwas Brot für die Esel, die uns am Berggasthaus Mesmer begegnen.

Dann geht es steil bergab.

Die Apokalypse

Wo der Berg endet und der Himmel anfängt, lässt sich kaum noch sagen. Vor uns geht der grau gewordene Schnee des Winters nahtlos in den Nebel über. Hier gibt es kaum noch Kontraste, nichts zu sehen und trotzdem etwas zu erleben. Ein paar Schritte Anlauf, die Beine in den Schnee stemmen und los.

Schlitternd pflügen wir den Abhang hinunter. Drei grosse Jungs, drei strahlende Gesichter, etwas Übermut. Ruedi bricht ein Stock. Tom schiesst liegend aus dem Dunst, rutscht an uns vorbei, ist kaum zu bremsen und kommt knapp vor einem Felsen zum Stillstand. Nichts passiert, zum Glück. Nur die Hände schmerzen höllisch.

«Du darfst nicht versuchen aufzustehen, du musst den Rucksack in den Schnee drücken», gibt Ruedi als guten Tipp fürs nächste Mal mit. Falls es eines gibt, denn es herrscht Endzeitstimmung im Lawinenkegel. Die Szenerie wird apokalyptisch. Geröll, abgeknickte Bäume und ein jede Farbe verschluckender Nebel vermitteln den Eindruck, als wäre hier schon lange kein Leben mehr möglich. Dabei ist das Paradies ganz nah.

Angekommen im Paradies

Ein gelbes Blumenmeer im saftigsten Grün. Dazu ein paar Hütten, Geissen und der Seealpsee, so spiegelglatt, dass er den Anblick verdoppelt. Als wir die Nebelgrenze über uns lassen, sind die Augen für einen Moment überfordert.

Nach all dem Schwarz-Weiss überwältigt der Anblick, so intensiv und kontrastreich, sanft und warm wie er vor uns liegt. Eben noch johlend im Schnee, erfasst uns jetzt eine tiefe Zufriedenheit. Kein Abgrund, kein Nervenkitzel weit und breit. Und doch ein absolutes Highlight.

Wir machen Pause auf einem Felsen, geniessen die Aussicht und unterhalten uns, bevor wir durch die Wiese talwärts streifen. Ausser einem Pärchen in einem Ruderboot, das mit seinen Handys dokumentiert, wie es sich von einem Fotografen ablichten lässt, ist niemand zu sehen.

Wir setzen uns ans Ufer des Sees, blicken zurück und sind angekommen. Bei uns. Und an einem Ort, der Ruedi viel bedeutet. «Ich habe sogar die Koordinaten auf den Arm tätowiert», erzählt er. Früher sei er oft mit seinem Vater hierhergekommen, wenn es schwierig war, wenn sich im Alltag etwas angestaut hatte und er einfach mal raus musste.

Ruedi trägt den Seealpsee nicht nur im Herzen, sondern auch die Koordinaten auf dem Arm.
Ruedi trägt den Seealpsee nicht nur im Herzen, sondern auch die Koordinaten auf dem Arm.

Der Ort wirkt. Wer hier an einem Tag wie heute keinen Frieden findet, hat ein ernsthaftes Problem.

Epilog: Das Leben ist kein Bilderbuch

Wir hatten gezögert, ob wir wirklich losziehen sollen. Drei Typen im Nebel, wer will das sehen, wer will das lesen. Keine Ahnung. Aber es hat sich gelohnt. Das Leben ist kein Bilderbuch, es sind nicht alle Seiten bunt. Die grauen Kapitel gehören dazu, machen die Geschichte vielseitig und lassen farbenfrohe Momente erst richtig strahlen.

Wir waren an traumhaften Orten, die fast menschenleer eine besondere Wirkung haben. Wo und wann findest du die noch, wenn du nicht Ruedi Gamper heisst und dein Büro über dem Abgrund hast.

Für ihn ist das Leben voller Ziele, die ihn auch gerne höher, schneller und weiter führen dürfen – aber nicht müssen. Der Typ lebt, was er liebt.

Selbst erleben

Wandern im Alpstein ist kein Geheimtipp, aber immer eine Tour wert. Für uns ging es von Wasserauen mit der Ebenalpbahn rauf, den Aescher haben wir links liegen gelassen und uns auf den Weg zum Gipfel des Schäfler gemacht. Von dort ging es über das Berggasthaus Mesmer zum Seealpsee und danach glücklich zurück nach Wasserauen. Dank Ruedi nicht nur auf den offiziellen Routen. Wenn du ihm auch mal folgen willst, kannst du das auf Instagram.

Mehr Geschichten von mir findest du hier.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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