Die unsichtbaren Unverzichtbaren
Hintergrund

Die unsichtbaren Unverzichtbaren

Bilder: Thomas Kunz

Sie sind die Wächter der Unterwelt. Die 30 Männer des Kanalnetzbetriebs des Tiefbauamts der Stadt Bern kümmern sich um 300 Kilometer Kanalisation. Wenn für die Bürger der Bundesstadt das Geschäft erledigt ist, fängt ihre Arbeit erst an.

Der erste Atemzug legt sich wie ein fauliger Lumpen über die Lunge. Morgens, während die Bernerinnen und Berner in den Tag starten, duschen, zmörgelen, Milch für die zweite Tasse Cappuccino aufschäumen, herrscht unter der Erde dicke Luft. Ein Arbeiter im schwarzen Gummianzug streckt seine fünf Meter lange Hochdrucklanze in den Pumpensumpf und wirbelt Fäkalien auf. Neben ihm ergiesst sich ein graubrauner Wasserfall aus den nördlichen Gemeinden des Einzugsgebiets der Kläranlage ins Pumpwerk Seftau. Leitersprossen an der Betonwand, die bis zur feucht glänzenden Decke führen, sind noch Meter über seinem Kopf mit WC-Papier behangen. Ein stummer Beweis, dass das hier noch gar nichts ist. Willkommen in der Unterwelt. Sie ist mit jedem Abfluss verbunden und nur einen Druck auf die Spültaste entfernt.

Harte Arbeit im Regenüberlaufbecken Seftau: Martin Pauli ist «Fachhandwerker Unterhalt Sonderbauwerke» und gerade am Schwitzen.
Harte Arbeit im Regenüberlaufbecken Seftau: Martin Pauli ist «Fachhandwerker Unterhalt Sonderbauwerke» und gerade am Schwitzen.

Eine gute Stunde zuvor sitzen Raphael Flückiger und Alain Fallegger bei einer Tasse Kaffee in der Betriebsküche und referieren über ihr unterirdisches Reich. Flückiger leitet den Kanalnetzbetrieb mit 30 Mitarbeitern, Fallegger ist sein für den Unterhalt zuständiger Stellvertreter. Noch liegt der Duft gemahlener Bohnen in der Luft, die Theorie ist leicht verdaulich und Regen ein Ereignis. «Regenereignisse», so sagen sie hier, sind weniger berechenbar als unsere täglichen Geschäfte und gehören ebenfalls zum Business. Die Berner Kanalisation ist ein Mischsystem. Regen- und Abwasser fliessen zusammen der Kläranlage zu, wo bis zu 3000 Liter pro Sekunde gereinigt werden können.

«Inzwischen gilt die Aare fast schon als zu sauber», sagt Flückiger. «Bevor 1967 die Kläranlage in Betrieb ging, konnte man nicht darin baden.» Die beiden wägen die Vorteile von Trenn- und Mischsystemen ab. Einerseits sollte die Kläranlage nicht mit sauberem Wasser überschwemmt werden, sondern Schmutzwasser reinigen. Vorteil Trennsystem. «Andererseits ist das Strassenabwasser auch toxisch», meint Fallegger. Was mit dem «First Flush», dem ersten Regen nach einer Trockenperiode, in die Kanalisation gespült werde, sei ebenfalls bedenklich. «Dann lieber Fäkalien als toxisches Strassenabwasser.»

Der Laie lernt: Alles nicht so einfach. Es ist eine schmutzige Geschichte, die viel Knowhow und Infrastruktur erfordert. Eine Geschichte von Kanälen, Regenüberlaufbecken, Fallschächten, Drossel- und Regulierbauwerken. Von Fachwissen und Fäkalien. Von einem seit dem Mittelalter gewachsenen System zur Siedlungsentwässerung, das sich mit sperrigen technischen Begriffen erklären lässt. Oder erleben.

In der Schwarzzone

Das zivile Leben wird an der Garderobe abgegeben. Ab der nächsten Tür, in der «Schwarzzone», ist Arbeitsmontur angesagt und eine Sicherheitseinweisung nötig. Wer ins Kanalnetz einsteigt, muss vorbereitet und gut ausgerüstet sein. Leuchtkleidung, Helm und Lampe. Handschuhe natürlich. Mit Spikes besetzte hüfthohe Gummistiefel, denn es kann schlüpfrig werden.

Ein Industrieklettergurt. Die Schächte sind tief. Dazu ein Gaswarngerät, weil viele Gefahren unsichtbar sind. «Dieses hier misst einerseits den Sauerstoffgehalt, anderseits explosive Gase sowie Kohlenmonoxid und Schwefelwasserstoff», sagt Raphael Flückiger und zeigt das kleine Gerät, das bei kritischen Konzentrationen Alarm schlägt. Kohlenmonoxid könnte durch Autoabgase in den Kanal sinken und muss nicht brennen, um zu vergiften. Benzin wäre ebenfalls ungesund. Zwei von vielen möglichen Gefahren.

«Faulgase kommen natürlich häufig vor», erklärt Flückiger. «Das Gerät ist eine Lebensversicherung um zu merken, wenn man sich in einer gefährlichen Zone bewegt.» Im Notfall hilft die «Oxyboks», ein kleines schwarzes Teil von der Grösse eines Feldstecher-Etuis, das am Gürtel um die Hüfte getragen wird. «Sie enthält ein Granulat, das die ausgeatmete Luft für maximal 25 Minuten wieder mit Sauerstoff anreichert.» Lebensrettend, wenn die Gefahr in der Luft liegt. Wer vom Wasser überrascht wird, hat davon nichts.

«Wir bekommen jeden Morgen einen detaillierten und auf Bern zugeschnittenen Wetterbericht. Dazu gibt es Alarm-SMS auf sämtliche Handys, wenn sich eine Regenzelle entwickelt», sagt Flückiger. «Die Schachtwache würde das empfangen können und die Kollegen im Schacht mit Morsealarmen und Pfeifen akustisch warnen.» Alleine steigt hier keiner ein.

Bei unseren Rettungsübungen hat schon der eine oder andere Feuerwehrmann geschwitzt.
Raphael Flückiger

Wenn die Systemleistung am seidenen Faden hängt

Sobald die Lunge sich an die dicke Luft gewöhnt hat und der ständige Wasserstrom nur noch in den Ohren, und nicht mehr im Kopf dröhnt, ist das kleine Regenüberlaufbecken Seftau kein besonders unangenehmer Ort. Der perfekte Hörsaal für Kanalisationsneulinge. Ein unscheinbarer Klinkerbau, bequem begehbar. Die Anlage wurde vor vier Jahren saniert und ist technisch auf dem neuesten Stand. Stiefel und Klettergestell können im Auto bleiben, ein Balkon gibt den Blick auf das Geschehen frei. Der knapp fünf Meter tiefe untere Teil des Beckens ist an diesem Montagmorgen nur noch spärlich gefüllt. Ganz unten arbeitet eine Pumpe daran, das Abwasser auf die andere Seite der Aare zu schicken. «Dieses Becken liegt tiefer als der Sammelkanal, in dem das Wasser zur Kläranlage geleitet wird», erklärt Flückiger.

Raphael Flückiger leitet den Kanalnetzbetrieb Bern.
Raphael Flückiger leitet den Kanalnetzbetrieb Bern.

Damit die Pumpe effizient arbeitet und sich keine Feststoffe festsetzen, wirbelt der Mann mit der Lanze das restliche Wasser auf. Ausserdem werden die Wände regelmässig gereinigt. Weiter oben warten drei Pumpen auf Starkregen, der das Becken an seine Kapazitätsgrenze bringen kann. «Wenn sich zu viel Wasser ansammeln würde, müssten wir entlasten und darüber verdünntes Abwasser in die Aare führen», sagt Flückiger.

115 Entlastungspunkte hat das System. Die Wassermengen werden gepumpt, gesammelt, gemanagt. Mal kostet das Energie, wie hier im tiefliegenden Regenbecken. Insgesamt betreibt das Tiefbauamt, zu dem der Kanalnetzbetrieb gehört, 24 davon. An anderen Stellen muss die Wucht des Wassers gebremst und Energie abgebaut werden. Das geschieht zum Beispiel durch Wirbelfallschächte, die das Wasser wie auf einer riesigen Rutschbahn nach unten kreiseln lassen. Das ganze System ist auf Ausgleich bedacht. «Hier im Regenüberlaufbecken geht es darum, das Wasser zurückzuhalten und kontrolliert weiterzuführen, wenn die Kläranlage wieder Kapazitäten hat», redet Flückiger gegen das konstante Rauschen des Abwassers an.

Natürlich fliessen im Jahr 2020 nicht nur Schmutz- und Regenwasser, sondern auch Datenströme, die Auskunft über den Zustand der Systeme im Kanalnetz geben. «2500 Datenpunkte senden im 15-Sekunden-Takt Updates», sagt Alain Fallegger. Und wenn bei einer Pumpe die Leistung nicht stimme, könne es sein, dass der Grund dafür ebenso unscheinbar wie ärgerlich ist.

Zahnseide und Feuchttücher, die sich nicht zersetzen, sind am schlimmsten für uns. Die verstopfen die Pumpe.
Alain Fallegger
Markus Neuenschwander, Fachhandwerker Unterhalt Sonderbauwerke, bedient die Pumpensteuerung.
Markus Neuenschwander, Fachhandwerker Unterhalt Sonderbauwerke, bedient die Pumpensteuerung.

Zurück an der frischen Winterluft verströmt der junge Tag Leichtigkeit. Morgensonne reflektiert auf den umliegenden Dächern, die Aare strömt ruhig dahin und das Abwasser, das den Fluss unterquert, ist vergessen, sobald sich die Tür des Pumpwerks schliesst. «Wir gehen im Sommer hier baden», sagt Flückiger, bevor er wieder ins Auto steigt und bald vor einem kleinen Problem steht.

«Unter dem Parkplatz hier ist ein richtig grosses Loch», beteuert der gelernte Bauingenieur. Das ist nicht das Problem. Das Loch ist das Drossel- und Regulierbauwerk Wylerbad des Speicherkanals Wankdorf-Aare, der momentan saniert wird. Ein gewaltiges Bauwerk, tief im Boden und anderthalb Kilometer lang. Bis zu 6000 Kubikmeter Wasser kann er aufnehmen. Sechs Millionen Liter. Das sind mehr als zwei randvolle olympische Schwimmbecken. Und doch nur ein Bruchteil der hundert Millionen Liter, die täglich durchs Kanalnetz fliessen. Da ist ein gesicherter Bauzaun keine schlechte Idee. Das Problem ist, dass der Schlüssel fehlt.

Während Kollege Fallegger ihn organisiert, bleibt Zeit für ein paar Anekdoten. Von der Fahndung mit Haken und Ködern, um Feuchttuch-Sünder an ihrem eigenen Abfluss zu überführen. Von Bikinis im Kanal oder dem fehlgeschlagenen Versuch, das Haustier per Toiletten-Bestattung auf die letzte Reise zu schicken. Was irgendwie durchs Rohr passt, wird runtergespült.

Gelegentlich landen auch Dinge in der Kanalisation, die ihre Besitzer unbedingt wiederhaben wollen. Pechvögeln, denen auf der Strasse Schlüssel oder Handys durch Entwässerungsroste fallen, hilft der Kanalnetzbetrieb sogar kostenlos. «Das ist uns lieber, als wenn die Leute selbst herumstochern und versuchen, an ihre Sachen zu kommen», sagt Flückiger. So ein fehlender Schlüssel ist ärgerlich. Aber jetzt ist er da. Der für den Bauzaun. Mit ein paar Handgriffen öffnen Flückiger und Fallegger erst das Schloss und dann den Untergrund. Wo eben noch eine Parkfläche war, führt jetzt ein stiller Schacht ins Nichts.

Alain Fallegger im Drossel- und Regulierbauwerk Wylerbad, wo das Wasser bis zur Überfallkante steigen kann.
Alain Fallegger im Drossel- und Regulierbauwerk Wylerbad, wo das Wasser bis zur Überfallkante steigen kann.

Die Echokammer

Kein Rauschen, kein Geräusch dringt nach oben. Der Kanal wurde im Dezember für die Sanierung abgestellt. «Momentan wird das Abwasser über das alte obere System abgeführt. Das geht nur von Ende Oktober bis Ende März», sagt Alain Fallegger, der sich als erster per Karabiner sichert und im Schein der Neonröhren hinabsteigt. «Wenn die Starkregen kommen, reicht das oben liegende Netz nicht aus.» Der Weg nach unten führt über eine lange Leiter. Tief und tiefer geht es, während der Puls steigt und jeder Schritt nachhallt.

Vorbei an der Überfallkante, bis zu der das Wasser steigen kann. Kaum zu glauben, so trocken und sauber wie dieser Schacht ist. «Jetzt haben wir alles geputzt, damit der Baumeister es sauber hat», sagt Fallegger. «Sonst hast du hier Schlamm und Fäkalien, die sich ablagern.» Acht Kubikmeter Sand, Kies und Schutt mussten über den Schacht aus dem Kanal geschafft werden, der nun nur noch ein kleines Rinnsal führt. Gähnend leer ist er ein dunkler Schlund, den die Helmlampen ein paar Meter weit ausleuchten. Eine Echokammer, die die Stimmen zurückwirft, während Fallegger vorausmarschiert und erklärt: «Hier kannst du unter der ganzen Stadt durchlaufen, bis in die Allmend zum Eisstadion.»

Der Speicherkanal ist trockengelegt und wird vor die Sanierung gereinigt.
Der Speicherkanal ist trockengelegt und wird vor die Sanierung gereinigt.

Die Dunkelheit dominiert mit jedem Schritt etwas mehr, der grosse beleuchtete Schacht wird zum kleinen Licht am Ende des Tunnels. Das Wasser und alles, was es mit sich führt, nagte jahrzehntelang an der Substanz des Bauwerks. Oder setzte sich daran fest. «Das ist die Sielhaut» sagt Fallegger, und bröselt ein paar vertrocknete Partikel von der Decke, die wie traurige Konfetti zu Boden rieseln. Die Sielhaut ist ein Biofilm, der die komplette Röhre bedeckt. «Sie ist normalerweise wie ein Schleim», erklärt er im Widerhall der eigenen Worte.

«Durch den Luftzug im trockenen Kanal wird sie wie Papier und muss vor der Sanierung entfernt werden.» Falls etwas davon in den Mörtel falle, sei das ein Problem. 80 bis 100 Jahre hält ein Kanal. Wenn saniert wird, dann lieber richtig. In diesem Speicherkanal ist die Sohle ausgewaschen und rau geworden. Grobe Kiesel sind zu erkennen. «Sie sollte glatt sein», sagt Fallegger. Ansonsten sei das Gefälle von etwa einem Prozent in diesem Kanal nahezu ideal. Im Frühjahr wird er wieder bereit sein, Wasser führen, speichern und gedrosselt weiterleiten. Das eine oder andere Mal wird er überlaufen. Zuerst anderthalb Kilometer weiter am anderen Ende, wo die Überfallkante zehn Zentimeter tiefer ist und ein Rechensieb den gröbsten Dreck abfängt. «Wir wollen die Schwimmstoffe wie Wattestäbli, Pariser, WC-Papiere zurückhalten», sagt Fallegger. «Wenn immer noch mehr Wasser in den Kanal läuft, ist auf unserer Seite die Notentlastung.»

Dann läuft es über die höhere Überfallkante ungesiebt in die Aare ab. «Es kann durchaus sein, dass wir in einem Jahr zwanzig Fälle haben, in denen wirklich entlastet wird», schätzt Fallegger. Je nach Gewittersaison. Wie verdünnt das Abwasser ist, lässt sich selbst hier unten nur erahnen. Trotzdem setzen sich die Gedanken fest wie die Sielhaut am nackten Beton. Entlastung in die Aare? Kläranlage erst seit 1967? Wer sich auskennt, kann über das Erstaunen darüber nur schmunzeln. In der EU-Hauptstadt Brüssel floss das Abwasser noch bis 2007 völlig ungeklärt in die Senne und von dort weiter in die Nordsee. Die Millionenmetropole Mailand hat ebenfalls erst in diesem Jahrtausend ein Klärwerk gebaut. Etliche Grossstädte sind noch längst nicht so weit.

Kein Entwässerungssystem ist perfekt. Sie wachsen über Jahrhunderte und müssen stets funktionieren. Hier, in Bern und darunter, wird Geld in die Erhaltung und den Ausbau gesteckt. Gut eine Milliarde Franken ist die Infrastruktur wert, etwa zehn Millionen sollen jährlich in die Sanierung fliessen. Und es fliesst etwas. Bedrohliches Dröhnen dringt durch den dunklen Stollen, kitzelt Urängste wach. Kommt jetzt die Flut? «Etwa 800 Meter weiter arbeitet einer mit der Lanze», beruhigt Fallegger. Arbeit gibt es überall und 75 Kilometer des Kanalnetzes sind begehbar. Wobei «begehbar» nicht die ganze Wahrheit ist. Der Ort, an dem Stefan Botta arbeitet, zwingt einen in die Knie.

In der Inselkloake

Unter dem Bubenbergplatz unweit des Bahnhofs ist der Luxus des stillgelegten und gereinigten Kanals schnell vergessen. «Das ist die Inselkloake», sagt Alain Fallegger. «Da hängt das Inselspital dran und der digitec-Shop auch.» Es geht in den Keller, vorbei am Yogaraum und durch ein Kampfsport-Studio. Vollkontakt mit der Realität ist angesagt. Stiefel, Mundschutz, «Oxyboks». Jetzt ist die gesamte Montur gefragt. Im Nebengang, zwischen an der Wand verstauten Bierbänken, ein offener Einstieg. Darunter zieht in Zeitlupe die Brühe vorbei.

Ausscheidungen, Mandarinenschalen, ein Kondom. Einzelheiten zu ignorieren fällt schwer, denn aufrecht stehen ist hier nicht möglich. 1,20 Meter Deckenhöhe senken den Blick automatisch. Es herrscht Höhlenklima, feucht und warm, der Geruchsinn rebelliert, die nahen Wände sorgen für drückende Enge, bieten dafür den Händen etwas Halt. In den Lichtkegeln der Helmlampen mal im, mal neben dem Abwasserfluss vorwärts stolpernd, geht es voran. Bis zu einer provisorischen Staumauer aus Holz, durch das ein Kunststoffrohr geführt ist. Ein kleiner Kanal im Kanal, neben dem Stefan Botta kniet.

Du darfst keine Berührungsängste haben, wenn die Wände leben.
Stefan Botta

Der Gruppenführer ist mit zwei Kollegen dabei, einen Anschluss zu erneuern. Alltag, ein kleiner Job. In drei Tagen erledigt. «In letzter Zeit haben wir mehr kleine Baustellen, wo wir viel selber machen», sagt er. Andere Aufträge werden an externe Firmen vergeben. Die 30 Mann des Kanalnetzbetriebs und 300 Kilometer Kanäle – die Rechnung geht sonst nicht auf. Bis zu einem Meter Höhe gelten sie als begehbar. So gesehen ist hier noch Luft nach oben. Botta ist entspannt. Ausbetonieren, verputzen, im Gestank des Abwassers sitzen und sich nie richtig aufrichten können. Ein Job, den man erstmal aushalten muss.

«Du hast hier Kakerlaken, Mäuse, Ratten», sagt er mit einem Lächeln. Darüber regt Botta sich genauso wenig auf wie über gruusige Grüsse aus der Oberwelt. «Alles was nicht in den Kanal gehört, findest du hier», erzählt er. «Von Frauenzeugs über Besteck und Spielzeug.» Seit knapp drei Jahren ist Botta «beim Kanal». Je nach Auftrag verbringen seine Kollegen und er vier, fünf Stunden am Stück kauernd oder gebückt im stickigen Untergrund. Das erfordert Planung, Durchhaltevermögen und Teamwork. «Wir sind hier eine coole Truppe, es läuft und denkt jeder für jeden», sagt Botta. «Es fägt, hier zu schaffen.» Ein bemerkenswerter Satz an diesem Ort, der anderen Albträume bereiten könnte. Beengter als Botta arbeiten beim Kanalnetzbetrieb nur noch Roboter.

Slow-TV vom Feinsten

Michael Mitter setzt den Kamerawagen in den Kanal.
Michael Mitter setzt den Kamerawagen in den Kanal.

Was an der Bümplitzstrasse mit 600 Metern Kabel im Schlepptau vorsichtig in den Kanal gehievt wird, erinnert an einen Mondrover. Die fremde Welt, die das 60 000 Franken teure Gefährt mit schwenkbaren Kamerakopf, starken Scheinwerfern und kleinen schwarzen Rädern erkunden soll, hat einer seiner Vorgänger vor gut zehn Jahren zuletzt befahren. «Unser Schnitt ist etwa 30 Kilometer pro Jahr», sagt Michael Mitter, der den wertvollen Helfer in Position dirigiert und einen Fluch hinterherschickt, der nicht dem Roboter gilt. «Schiisrohr!», entfährt es ihm. «Wir hätten doch die anderen Räder nehmen sollen, Theo.»

Kollege Theo Maibach sitzt heute im Wagen und übernimmt die Steuerung des Gefährts. Die beiden sind ein eingespieltes Team und stets gemeinsam unterwegs. Sie dokumentieren den Zustand des Kanalnetzes und vermerken jeden Anschluss, jeden Riss, jede Muffe. Kunststoffrohre wie dieses sind ein Problem. «Nicht unser Lieblingsmaterial», sagt Mitter. «Die sind rutschig, dafür haben wir eigentlich Granulaträder.» Im Heck ihres Einsatzwagens steckt reichlich Zubehör.

Gefederte Eiprofil-Fahrhilfen, die in ovalen und sich nach unten verengenden Kanälen Seitenhalt geben. Zusatzgewichte für mehr Bodenhaftung. Eine weiteres Kameramodul, das vom Hauptroboter aus bis zu 30 Meter weit in einen seitlichen Anschluss gefahren werden kann. Fast grenzenlose Möglichkeiten. Trotzdem fährt immer die Gefahr mit, dass der Roboter stecken bleibt. «Wenn sich zum Beispiel Fäden um die Achsen wickeln, bringt man das Ding nie mehr raus», sagt Mitter, der seit 17 Jahren beim Kanalfernsehen ist und früher mal Landschaftsgärtner gelernt hat. In seinem jetztigen Job sieht er höchstens Wurzeln, die durch Kanalwände wachsen. Dann muss saniert werden.

Die Kommandozentrale: Theo Maibach steuert heute den Kamerawagen.
Die Kommandozentrale: Theo Maibach steuert heute den Kamerawagen.

Theo Maibach blickt auf fünf Monitore und steuert per Joystick den Roboter. «Seitlicher Anschluss, verschlossen», trägt er in eine Tabelle ein und richtet die Kamera aus. «Wir machen immer eine Totale und Detailaufnahmen», erklärt er, der im Austausch mit Michael Mitter einschätzen muss, in welche Lage er die teure Technik manövrieren kann.

Ihre Videoaufnahmen, versehen mit Daten und Koordinaten, sind wertvoll für die Kollegen aus der «Planung Siedlungsentwässerung», wo Ingenieure über Sanierungsmassnahmen entscheiden. Und für Kollegen wie Stefan Botta, der sich vor manchem Einsatz ein Bild davon machen kann, was ihn im Kanal erwartet.

«Da liegt ein Praliné», sagt Theo Maibach grinsend und schwenkt die Kamera auf ein braunes Hindernis. Mitter und Maibach dringen bis in die Kapillaren des Kanalsystems vor, von wo aus das Wasser ungehindert in die tieferliegenden Adern, die Sammelkanäle, fliessen soll. Einen Schoggijob im Vergleich zu denen, die nach unten müssen.

Der ganze Dreck ist noch da

Genau genommen ist diese Tür ein Fenster. Darunter ist nichts. Eine Leiter, die in den Speicherkanal Länggasse-Aare führt, ist seitlich versetzt daneben angebracht. Hier leben die Wände, ist alles von schmieriger Sielhaut bedeckt und der Abwasserstrom gewaltig.

Vorsichtige Schritte im Schlick, eine Hand am Sicherungsseil, Toilettenpapier überall. Keine Zeit, sich zu ekeln. «Das ist nur Materie, damit kann ich umgehen», sagt Martin Pauli, ein Veteran, der seine «Kanaltaufe» längst hinter sich hat. Ausgerutscht, eingetaucht, umgezogen, weitergemacht. Berufsrisiko. Nochmal gut gegangen. «Hier wäre die Strömung zu stark, da bist du weg», warnt er. Deshalb: festhalten und vorsichtig gehen.

Martin Pauli (links) und Markus Neuenschwander.
Martin Pauli (links) und Markus Neuenschwander.

Sein Kollege Markus Neuenschwander öffnet eine letzte Schleuse, der nicht ganz leer gepumpte Zwischenraum hat etwas von einem sinkenden U-Boot. Das Wasser steht auf Schienbeinhöhe, bis Neuenschwander die Riegel der nächsten schweren Tür löst, sie aufstösst und ein Sog einsetzt. Undefinierbares klatscht an die Gummistiefel, während sich das Abwasser in den nächsten grossen Kanal ergiesst. Jedes Stückchen, dass die Füsse umspült, ein kleiner Beweis, dass alles noch da ist. Die Ausscheidungen, die alten Tampons, das Duschwasser, der ganze flüssige Dreck, den wir täglich durch die Rohre schicken. Nichts davon ist mit dem Druck auf die Spülung oder dem Gluckern im Abfluss weg. Es ist nur unter der Oberfläche und aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, weil nichts mehr zum Himmel stinkt wie im Mittelalter. Dafür, dass es so ist, sorgen die Unsichtbaren in der Leuchtkleidung. Die Unverzichtbaren im Untergrund.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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