Stefan Munsch
Hintergrund

Backyard Ultra: Das verrückteste, lustigste und längste Rennen, das ich je gelaufen bin

Siri Schubert
15.5.2025

«Sind die irre?» schwirrt es mir durch den Kopf, als ich vom Backyard Ultra in Hallwil höre. Ein Rennen ohne Ziel, das Stunden oder Tage dauert. Auf einer Runde, die du so oft laufen kannst, wie du magst. Wer am längsten durchhält, gewinnt. Das klingt so verrückt, dass ich mich anmelden muss.

Wie so oft im Leben hat der Zufall seine Hand im Spiel. Im Autoradio erfahre ich – ganz nebenbei – von einem Laufwettkampf, der praktisch bei mir in der Nachbarschaft stattfindet: dem Backyard Ultra Hallwil.

Ich spitze die Ohren. Wie bitte? Ein Rennen ohne Ziellinie, das Stunden oder auch Tage dauern kann? Bei dem die Person gewinnt, die die letzte Runde allein beendet?

Genau. Bei einem Backyard Ultra hast du jeweils eine Stunde Zeit, um 6,706 Kilometern zu laufen. Zu jeder vollen Stunde versammeln sich Läuferinnen und Läufer wieder an der Startlinie. Wer genug hat oder die Runde nicht innerhalb von 60 Minuten beendet, scheidet aus. «Das könnte richtig cool oder richtig schrecklich werden», denke ich. So oder so, Grund genug, es auszuprobieren.

Last Minute Tipps und eine echte Challenge

Kurzerhand melde ich mich an, drei Tage später startet das Rennen. Für gezieltes Training oder eine vernünftige Erholungsphase ist keine Zeit mehr. Bleibt die Hoffnung, dass meine Beine sich nach dem Wings for Life World Run wenige Tage zuvor wieder einigermassen regeneriert haben.

Vor dem Start: Noch lächle ich – wie lange das wohl anhält?
Vor dem Start: Noch lächle ich – wie lange das wohl anhält?
Quelle: Stefan Munsch

Bisher waren meine längsten Läufe zwischen 30 und 36 Kilometer lang. Einen Marathon bin ich noch nie gelaufen. Einen Ultra, also einen Lauf, der über die Marathondistanz hinausgeht, erst recht nicht.

Ich habe also keine Ahnung, was mich beim Backyard Ultra erwartet. Glücklicherweise gibt es im Internet Tipps zu Verpflegung und Ausrüstung. Wenn du wissen möchtest, was für mich am besten funktioniert hat, schau dir meine Empfehlungen an.

  • Ratgeber

    Ausrüstungstipps für Backyard Ultras und lange Läufe

    von Siri Schubert

Teamgeist, Gespräche und der Spass am gemeinsamen Laufen

Das Teilnehmerfeld beim Hallwil Backyard Ultra ist auf 50 Läuferinnen und Läufer begrenzt. Schon vor dem Start begeistert mich die familiäre Atmosphäre. Ein Läufer teilt seine Strategie mit mir: keine zu langen Pausen, um nicht auszukühlen, zwischendurch bei kleinen Anstiegen gehen und in jeder Pause etwas essen.

Die Cousinen Samara und Anja treffe ich, als ich in der Turnhalle meine Verpflegungsstation aufbaue. Samaras Schwester, Tanja, bietet mir an, mich ebenfalls zu unterstützen, da ich keine Support-Crew habe. Wow, so viel Teamgeist, Freundlichkeit und Offenheit! Tatsächlich bin ich den ganzen Tag über immer wieder begeistert von den Begegnungen und Gesprächen beim Rennen.

Alleine laufe ich praktisch nie und geniesse die Gespräche, Begegnungen und die schöne Strecke.
Alleine laufe ich praktisch nie und geniesse die Gespräche, Begegnungen und die schöne Strecke.
Quelle: Stefan Munsch

Der Community-Gedanke steht bei diesem Lauf im Mittelpunkt. Zwar haben sich viele ein Zeit- oder Rundenziel gesetzt, doch im Grunde geht es darum, gemeinsam zu laufen, zu lachen und am Schluss auch ein bisschen zu leiden.

Das ist kein leeres Gerede. Da zur vollen Stunde immer wieder alle gemeinsam starten, kommt ein Gemeinschaftsgefühl auf. Niemand läuft allein oder wird abgehängt. «Um richtig lange Strecken zu laufen, braucht es andere, die mitgehen», sagt Race Direktorin Kathrin Buff. «Denn wenn ein Läufer oder eine Läuferin eine Runde alleine beendet hat, ist das Rennen vorbei.»

Ab jetzt heisst es laufen, so lange es geht

Der Startschuss fällt. Der Reiz, schnell loszupreschen, ist da. Doch ich nehme mir die Ratschläge zu Herzen und gehe es langsam an. Schnell bin ich im Gespräch mit Mitlaufenden. Wir reden über Lieblings- und Meist-gehasste-Laufschuhe, tolle Trainingsstrecken und das Laufen bei Nacht unter Sternen.

Von Samara erfahre ich, dass sie aus der Schweiz kommt, aber seit 2001 in Botswana lebt. Dort hat sie ihren ersten Backyard Ultra nach zehn Runden beendet. Heute ist es ihr Ziel, dieses Ergebnis zu toppen und mit ihrer Cousine Anja, die ihren ersten Backyard Ultra läuft, ein tolles, gemeinsames Lauferlebnis zu haben.

Samara, Anja, Max und ich haben uns in einer Vierer-Laufgruppe zusammengefunden.
Samara, Anja, Max und ich haben uns in einer Vierer-Laufgruppe zusammengefunden.
Quelle: Stefan Munsch

Später höre ich, dass Samara bereits den Serengeti Marathon in Tansania gelaufen ist. Und den ungleich härteren 100 Kilometer langen Salt Pans Ultra in Botswana, der bei extremer Hitze durch Salzwüsten und Grassavanne führt. Wow.

Und schon ist die erste Runde vorbei. Und die zweite. Und so weiter. So verfliegen Zeit und Kilometer. Die Pausen zwischen den Runden werden immer willkommener. Die Organisatorinnen haben ein Buffet mit süssen und salzigen Snacks und später auch mit warmem Essen aufgebaut. Denn wer lange Strecken laufen möchte, muss ständig Energie zuführen.

Kurz die Beine hochlegen, essen, trinken und schon ertönt das Signal zur nächsten Runde.
Kurz die Beine hochlegen, essen, trinken und schon ertönt das Signal zur nächsten Runde.
Quelle: Stefan Munsch

Backyard Ultras haben Fans auf der ganzen Welt

Das Race in Hallwil gehört zu der Rennserie The Last Lap (TLL – die letzte Runde) mit Läufen in Goldach, Varen, Jegensdorf, Lugano, und Interlaken.

Ins Leben gerufen hat sie Marco Jaeggi, selbst ein passionierter Ultraläufer. Er hat unter anderem den Marathon des Sables, den Eiger Ultra Trail und das weltweit längste Wüstenrennen, das sich über 1200 Kilometern nonstop durch die Wüste Mauretaniens erstreckt, absolviert. 2024 ergatterte er einen der wenigen Startplätze beim Barkley Marathon, einem der härtesten Ausdauerrennen der Welt. Diesen Lauf haben seit seinem Debüt vor knapp 40 Jahren erst 20 Menschen, darunter eine Frau, erfolgreich beendet.

Der Erfinder des Barkley-Marathons und des Backyard-Ultra-Formats ist der Amerikaner Gary Cantrell, besser bekannt als Lazarus Lake. In Ultra-Kreisen ist er eine Legende: Mal wird er als «bösartiges Genie», mal als «Leonardo da Vinci des Schmerzes» beschrieben. Die Strecke des Backyard Ultras hat er bewusst auf 6,706 Kilometer (4,167 Meilen) gelegt, damit nach 24 Runden 100 Meilen (160,93 Kilometer) erreicht sind.

Du hast die Wahl: Ab 25 Kilometern gibt es beim Backyard Ultra in Hallwil eine Schiefermedallie.
Du hast die Wahl: Ab 25 Kilometern gibt es beim Backyard Ultra in Hallwil eine Schiefermedallie.
Quelle: Siri Schubert

Das Schöne an diesem Format: Niemand muss extrem weit laufen. Du selbst entscheidest, wann Schluss ist: nach einer, fünf oder 116 Runden. Dort liegt der derzeitige Weltrekord des polnischen Läufers Lukasz Wrobel, der mehr als 777 Kilometer im Kreis lief.

Backyard Ultras finden inzwischen in 70 Ländern auf der ganzen Welt statt. Er eignet sich für Laufanfängerinnen und Profis. In der Schweiz gibt es neben der Rennserie The Last Lap den Witiker Backyard Ultra, der in diesem Jahr zum sechsten Mal stattfindet, den Easter Backyard Ultra, den Helvetia Backyard Ultra in Oberwil-Lieli und den Ettinger Backyard Ultra. Zusätzlich gibt es immer wieder Einzelrennen und Anlässe im gleichen Format.

Von Langeweile keine Spur

Inzwischen bin ich fünf Runden gelaufen – mehr als 33 Kilometer. Noch immer fühle ich mich fit und geniesse die Gespräche. Das Wissen, jederzeit aufhören oder weiter laufen zu können, entspannt mich. Das liegt sicher auch daran, dass ich ohne Erwartungen und ohne ein bestimmtes Ziel angetreten bin.

Allerdings werden die Pausen gefühlt immer kürzer. Ich will meine Trinkflasche auffüllen, Socken und Schuhe wechseln, etwas essen. Vor Sonnenuntergang müssen alle Läuferinnen und Läufer Stirnlampe und Leuchtwesten anziehen – das wird am Start kontrolliert.

Vor dem Rennen hatte ich mich gefragt, ob es nicht wahnsinnig langweilig werden würde, immer die gleiche Strecke zu laufen. Doch da ich immer wieder mit anderen Menschen laufe, ist jede Runde aufs Neue interessant. Und ich schätze es, bei einer markanten kleinen Steigung zu wissen: Jetzt bin ich schon fast wieder im Ziel.

Die Strecke selbst – vorbei am Schloss Hallwyl – gefällt mir auch. Damit bin ich nicht allein. «Wunderschön, mit dem Wald, dem Bach, den Kühen am Wegesrand und den blühenden Blumenfeldern», sagt Samara.

Der Sonnenuntergang bietet eine tolle Kulisse.
Der Sonnenuntergang bietet eine tolle Kulisse.
Quelle: Backyard Ultra Hallwil

Da es tagsüber recht warm ist, freue ich mich auf den Abend, wenn es abkühlt und dunkel wird, denn ich laufe gern im Dunkeln. Und auf die nächste Pause, in der ich ein paar Löffel Milchreis mit Beeren essen möchte. Und auf frische Socken und ein trockenes T-Shirt.

Inzwischen bin ich bei Runde acht angelangt. Die magische Marke von 50 Kilometern habe ich überschritten und befinde mich im Ultra-Bereich. Das hätte ich nicht erwartet. Nach neun Runden und 60,2 Kilometern entscheide ich: Für mich ist Schluss.

Ich bin nicht an meine Grenzen gegangen, sondern habe ein tolles Lauferlebnis gehabt und bin dabei so weit gejoggt wie nie zuvor. Vielleicht werde ich beim nächsten Backyard Ultra mit einem ambitionierteren Ziel an den Start gehen, aber für heute passt es.

Round and round: Dass ich so viel Spass auf so vielen Kilometern haben würde, hätte ich nicht gedacht.
Round and round: Dass ich so viel Spass auf so vielen Kilometern haben würde, hätte ich nicht gedacht.
Quelle: Siri Schubert

Persönliche Rekorde und ein überraschender Gewinner

Während ich packe, geht das Rennen weiter. Samara und Anja sind noch gut dabei. Anja wird ihr Debüt mit 14 Runden (93,88 Kilometer) beenden, Samara schafft mit 16 Runden (107,29 Kilometern) einen neuen persönlichen Rekord.

Nur noch fünf Läufer sind ab Runde 17 im Rennen. Ab Runde 22 nur noch zwei: der Ultra-erfahrene Thomas Lauber und der Newcomer Alessio Aretano. Jetzt spielt die mentale Stärke eine entscheidende Rolle. Alessio, mit 21 Jahren der jüngste Teilnehmer des Rennens, hatte mir zuvor bei einer gemeinsamen Runde gesagt, dass sein Ziel für seinen ersten Backyard Ultra 25 Runden seien. «Respekt», dachte ich.

Aufsteiger: Alessio Aretano gewinnt das Rennen nach 25 Runden und 167,6 Kilometern.
Aufsteiger: Alessio Aretano gewinnt das Rennen nach 25 Runden und 167,6 Kilometern.
Quelle: Backyard Ultra Hallwil

Und er schafft es: Er läuft nach mehr als 100 Meilen (167,6 Kilometern) ins Ziel. «Es ist surreal, ich hätte nicht gedacht, dass ich gegen so erfahrene Läufer gewinnen kann», strahlt er. Tiefpunkte habe es auch gegeben. Der Schlafmangel in der Nacht und schwere Beine machten ihm zu schaffen. Doch es sei seine Einstellung, sein Mind Set, gewesen, dass es ihm erlaubte, immer noch eine weitere Runde zu laufen, bis zum Erfolg.

Mit einer Gesamtzeit von 25 Stunden ist der erste Backyard Ultra Hallwil ein ziemlich kurzes Backyard-Ultra-Rennen, denn oft werden höhere Rundenzahlen erzielt. Doch es ist nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität, die zählt. Und hier hat der Backyard Ultra wirklich geliefert.

Titelbild: Stefan Munsch

19 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Forschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    Wir müssen schon wieder reden, Thermomix

    von Luca Fontana

  • Hintergrund

    Vor Ort beim Wings for Life World Run: Darum ist der Lauf so besonders

    von Siri Schubert

  • Hintergrund

    5 schrullige Gemeinsamkeiten von Büsis und Nymphies

    von Anika Schulz

5 Kommentare

Avatar
later