Ein Film als Warnung an die Politik
Produkttest

Ein Film als Warnung an die Politik

«Les Misérables» von Regisseur Ladj Ly ist eine fiktionale Abbildung der Wirklichkeit von Pariser Vororten. Es geht um Gewalt, Diskriminierung und Chancenungleichheit. Dabei macht der Film klar: Simples Gut und Böse gibt’s hier nicht.

Es ist Fussball-WM. Frankreich feiert. Die Strassen sind von Menschen und Flaggen gesäumt. Blau, weiss und rot dominieren – die Nationalfarben Frankreichs. Immer wieder wird die Mannschaft mit «Allez, les Bleus» angefeuert. Alle sind gleich. Alle verfolgen dasselbe Ziel. Alle sind fröhlich.

Damit ist nach der Einstiegsszene Schluss.

Der Alltag im Pariser Vorort Montfermeil ist von Zwietracht geprägt. Auf der einen Seite steht die Polizei, auf der anderen die multikulturelle Bevölkerung. Gwada (Djibril Zonga) und Chris (Alexis Manenti) patrouillieren schön länger auf den Strassen der Stadt, Stéphane (Damien Bonnard) hat sich gerade erst versetzen lassen und erlebt seinen ersten Tag auf dem Rücksitz des Peugeots der Equipe. Ihm wird schnell bewusst, dass die beiden Kollegen nur selten nach Vorschrift agieren. Vor allem Chris’ Charakter ist von moralischem Verfall geprägt.

Die willkürlichen Kontrollen treffen besonders oft die Kinder und Jugendlichen von Montfermeil. Im Zentrum steht einerseits der gewiefte Issa (Issa Perica), der immer wieder Kavaliersdelikte verübt und ins Kreuzfeuer der Polizisten gerät. Andererseits der ruhige Buzz (Al-Hassan Ly, Sohn des Regisseurs), der am liebsten seine Drohne an den Fenstern der hübschen Mädchen des Viertels vorbeifliegen lässt. Bis er zufällig eine Szene filmt, deren Inhalt für Polizei wie auch für die Bewohner explosives Potenzial birgt.

Victor Hugo als Inspiration

Es ist kein Zufall, dass «Les Misérables», der Film, nach dem Roman «Les Misérables» aus dem Jahr 1862, geschrieben vom französischen Schriftsteller Victor Hugo, benannt ist. Beide Geschichten sind in Montfermeil angesiedelt, bei beiden steht das Versagen der Sozialpolitik thematisch im Zentrum. Die Stadt hat sich zwar seit Hugos Roman gewandelt, die Probleme aber sind geblieben. Montfermeil ist ein Schandfleck der «Grande Nation». Die Menschen werden sich selbst überlassen, die Politik verschliesst ihre Augen, schweigt die Schwierigkeiten tot. Es ist einfacher, sich um Orte zu kümmern, die sich gut auf einer Ansichtskarte machen.

Die Kinder wachsen ohne Perspektive, dafür mit umso mehr Misstrauen gegenüber Staat und Autorität auf. Die französische Gesellschaft schert sich nicht um sie, warum also sollten sie sich um gesellschaftlich konstruierte Regeln und Normen scheren?

So ist der Mikrokosmos Montfermeils von Interessenskonflikten geprägt. Jeder hat seine eigene Agenda und kämpft in Form von Überleben für ein besseres Leben: Rat holt man sich beim dem Kebabverkäufer, Islam-Konvertit und Ex-Kriminellen Salah (Almamy Kanoute). Der Bürgermeister (Steve Tientcheu) ist gleichzeitig Gangster, der die Polizei gerne aus dem Weg räumen würde. Und die Muslimbruderschaft versucht, das Viertel spirituell nach den eigenen Regeln zu leiten.

Menschen und ihre Emotionen sind kompliziert

Einzig die Wut auf die Lethargie des Staates eint sie. Die Wut auf tägliche Diskriminierung durch die Polizei. Die Wut darauf, im Stich gelassen zu werden. Wut ist ohnehin die zentrale Emotion im Film. Gwada und Chris benutzen sie, um aufzuräumen, durchzugreifen und sich Respekt zu verschaffen. Die Jugend nutzt sie als Motor zur Auflehnung gegen Autoritäten, vor allem die Polizei. Gewalt ist an der Tagesordnung – auf beiden Seiten.

Diese Komplexität macht den Film so sehenswert. Die Protagonisten werden nicht in nur einem Licht dargestellt, es gibt kein Schwarz-Weiss-Denken, kein klares Gut und Böse. Die Charaktere werden so dargestellt, wie sie in der Realität eben sind: vielschichtig. Wir als Zuschauer hegen für alle Sympathien – und Aversionen. Am Ende tendieren wir zwar schon zu einer Seite des Konflikts, verabscheuen die andere aber nicht bedingungslos: Wir bringen Verständnis auf, da Regisseur Ly hinter den Schleier der Wut schauen lässt. Etwa, wenn der Polizist Gwada am Abend nach Hause geht. Dort bereitet seine Mutter in der Küche das Abendessen vor. Er küsst sie zur Begrüssung sanft auf die Backe. Sie will über seinen Tag reden. Er nicht – und bricht stattdessen in Tränen aus.

Es wäre ein Einfaches gewesen, dieses Narrativ von Polizei und unterdrückter Gesellschaft simpel darzustellen. Je nach politischer Gesinnung wird die Bevölkerung als brutaler Mob gezeichnet oder die gesamte Polizei als eine Horde Rassisten. Der Mensch tendiert zu solchen schnellen und radikalen Einordnungen. Es ist anstrengend, eigene Denkmuster zu überdenken. Denn Denkmuster sind kognitive Gewohnheiten und Gewohnheiten erfüllen eine Entlastungsfunktion für das Gehirn. Das ist in vielen Fällen wichtig, aber auch riskant, da wir dabei Sachverhalte nicht hinterfragen und unser Denken so nicht weiterentwickeln. Schon Konfuzius wusste: «Lernen, ohne zu denken, ist eitel; denken, ohne zu lernen, gefährlich.» Der Mensch und seine Motive sind vielschichtig. So ist Wut nicht primär ein Ausdruck von Boshaftigkeit, sondern oft von Ohnmacht und Frustration.

Dialog als Verbindung von Wut und Verständnis

Der Polizist Stéphane versteht das. Seine Weltanschauung ist noch nicht so eingefahren wie die seiner zwei Kollegen. Er wirft einen objektiven Blick auf die Situation und agiert als Mediator zwischen den beiden Welten. Er nimmt die Bewohner ernst, vorverurteilt sie nicht und prangert die Methoden der eigenen Kollegen an. Er ebnet den Weg zum Dialog. Auch deshalb hinterlässt der Film kein Gefühl kompletter Hoffnungslosigkeit. Im Gegenteil: Durch die Komplexität der Charaktere und Themen wird Verständnis erzeugt.

Und darin ist der Film verdammt gut. Er macht uns Zuschauern die Menschen und ihre Schicksale zugänglich. Sogar dem groben Chris, der mit sexistischen und rassistischen Sprüchen nur so um sich wirft, wird durch einen Einblick in sein Familienleben Menschlichkeit zugesprochen. Wir alle werden von denselben Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen angetrieben. Dennoch tendieren wir als Gesellschaft wie auch als Individuen dazu, uns über Unterschiede zu definieren.

Uns als Zuschauer wird klar: Wut dient dazu, auf Missstände aufmerksam zu machen. Solidarität, um sie zu überwinden.

Ein Fingerzeig an die Politik

Der Film wirkt so authentisch, ist so nah an den Menschen dran, dass er schon beinahe Züge eines Dokumentarfilmes besitzt. Filmerisch wird dieses Gefühl durch das Einsetzen einer Handkamera hervorgerufen. Thematisch durch die französischen Unruhen von 2005, die den Film inspirierten.

Regisseur Ladj Ly wuchs selbst in Montfermeil auf und hat die Unruhen hautnah mitbekommen. Diese persönliche Verstrickung von ihm und der Schauspieler, die auch hauptsächlich aus Montfermeil stammen, bestärkt den Film in seiner Intensität und Authentizität. Jede Emotion kommt an.

Trotz des Aufzeigens von Chancen zum Dialog ist der Film auch eine Warnung an Politik und Wirtschaft. Wenn nichts getan wird, um die Lage der Menschen zu verbessern, ist der nächste Aufstand nicht weit. Dann wird die Auflehnung gegen jegliche Autoritäten und das Misstrauen in den Staat weitergehen und sich immer wieder entladen. Nicht nur in den französischen Banlieus, sondern überall, wo Unterdrückung und Chancenungleichheit herrschen. Dann bleibt eine geeinte Gesellschaft wie in der Anfangsszene eine Utopie. Das macht das Ende des Films nochmals deutlich:

Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloss schlechte Gärtner.
Victor Hugo, «Les Misérables»
Headerbild: Filmcoopi

31 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar