Kein Glacé der Welt ist so gut, dass ich mich zwei Stunden dafür anstelle
Meinung

Kein Glacé der Welt ist so gut, dass ich mich zwei Stunden dafür anstelle

Sobald sich Menschen in eine Schlange stellen, mache ich einen grossen Bogen drum. Was auf andere eine magische Anziehungskraft auszuüben scheint, ist für mich pure Folter.

Ich schaue auf die Uhr. Erst eine Minute vergangen. Das kann nicht sein. Ich stehe hier bestimmt schon zehn. Handy raus, ein Blick in die sozialen Medien. Ich bin gelangweilt, Handy wieder weg. Ich beobachte die Menschen um mich, versuche die Geräusche aufzusaugen, meine innere Mitte zu finden. Keine Chance, ich bin unruhig und ungeduldig. Vor mir stehen zwanzig Menschen mit demselben Ziel wie ich: dem Supermarkt. Der Wocheneinkauf muss sein. Deshalb warte ich leicht grantig, bis ich an der Reihe bin.

So viele Menschen wie Autos vor dem Gotthard

Während des Lockdowns sah ich mich auf einmal mit einer Situation konfrontiert, der ich sonst strikt aus dem Weg gehe: dem Schlange stehen. Was für andere ein Zeichen von Qualität ist, ist für mich ein Zeichen zum Weiterziehen. Ich habe weder Geduld, noch verspüre ich irgendeine Art von Vorfreude, wenn ich daran denke, mich zwei Stunden lang für eine Kugel Glacé anzustellen. So toll ist kein Gelato der Welt, dass es ewiges Warten in der prallen Sonne rechtfertigen würde. In 120 Minuten könnte ich mir einen Film anschauen (okay, vielleicht keinen von Lav Diaz), ein Fussballspiel im Stadion verfolgen oder mit dem TGV von Basel nach Dijon fahren – und das erst noch klimatisiert. Alles viel besser, als schwitzend in Einerkolonne in der Länge des Gotthard-Staus am Osterwochenende auf ein Glacé oder noch schlimmer, einen Bubble Tea zu warten. Das Getränk, das an Froschlaich erinnert, schien für mich schon vor Jahren seinen Zenit überschritten zu haben. Ein neuer Laden in Wiedikon belehrt mich momentan eines Besseren.

Geduld ist eine Tugend, die ich nicht besitze

Ausser ich befinde mich gerade mitten in einem Themenpark oder einer Pandemie, begegne ich Schlangen vor allem vor Gastronomiebetrieben. Sobald ein x-beliebiger Influencer ein Insta-Bild des Etablissements mit dem Hashtag #foodporn versieht, rennen die Follower schon los, bevor der Post überhaupt abgeschickt wurde. Schön für den Umsatz der Kneipe, weniger schön für mich. In dem Moment, in dem mehr als fünf Leute vor der Türe stehen, erkläre ich den Laden zum persönlichen Sperrgebiet und unterstütze weniger gehypte Gastronomen in meiner Nachbarschaft. Gelebte Kultur der Chancengleichheit.

Man mag nun argumentieren, dass ich einiges im Leben verpasse, weil ich keine Lust auf Anstehen habe. Dass ich so nie mit kulinarischen Superlativen konfrontiert werde. Mag sein. Vielleicht ist mein Verhalten trotzig und dumm. Aber wenn ich mir erst stundenlang die Beine in den Bauch stehen muss, um das beste Glacé der Stadt in meinen Händen zu halten, vergeht mir der Appetit schon vor dem ersten Schleck.

Schweizer stellen sich so oft in Schlangen, dass ich mich manchmal frage, ob es als Nationalsport gilt. Ob für die Flussbadi in der Stadt oder Biketrails in den Bergen, überall sieht’s aus, als würde gerade eine Pilgerkarawane durchs Land ziehen. Sogar am Flughafen, bevor das Boarding überhaupt beginnt, steht die Hälfte der Passagiere schon in Reih und Glied, als ob sie sich so den besten Platz sichern könnte. Warteschlangen scheinen Menschen anzuziehen wie das Licht die Motten. Das mag der normative soziale Einfluss sein oder auch eine gewisse Unfähigkeit zu kritischem Denken. Oder vielen Menschen macht das Schlange stehen – so unverständlich ich das auch finde – effektiv Spass.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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