Schwache Abduktoren, starke Schmerzen?
Hintergrund

Schwache Abduktoren, starke Schmerzen?

Rund die Hälfte aller Läuferinnen und Läufer hat regelmässig Beschwerden. Unglaublich, dass die natürlichste aller Sportarten so häufig zu Verletzungen führt. Eine Rolle können dabei die gerne vernachlässigten Abduktoren spielen.

Es läuft. Aber es läuft nicht besonders gut. Wer ein bisschen in Fachliteratur eintaucht, findet Verletzungsquoten, die auch vom American Football stammen könnten. Sie stammen aber von Menschen, die in ihrer Freizeit regelmässig eine Runde joggen gehen. Je nach Studiendesign verletzen sich von ihnen mal 79 Prozent in einem Zeitraum von sechs Monaten, mal 32 Prozent in 24 Wochen, mal 48 Prozent im Laufe eines Jahres. Egal, wie die Zahlen im Detail zustande kommen – sie sind immer hoch. Eigentlich zu hoch dafür, dass Laufen eine menschliche Kernkompetenz sein sollte. Doch jeder Körper, jedes Gangmuster ist anders und kann früher oder später zu Problemen führen. Ich hörte letzten Sommer im Lauf-Coaching schon nach den ersten Schritten dieses Feedback: «Du hast eine Asymmetrie. Deine rechte Schulter geht nach oben und rechts verdreht sich das Becken.» Dazu kamen knickende Beinachsen und ein Knie, das bei Belastung nach innen wegdreht. Ich war zwar nicht verletzt, aber ebenfalls etwas geknickt.

  • Hintergrund

    Lauf-Coaching: Der Kampf mit dem Gewohnheitstier in mir

    von Michael Restin

Doch es machte auch klick. Seither versuche ich, bewusster zu laufen. Manchmal barfuss, manchmal in Schuhen und möglichst im Schongang. Ich will noch eine Weile zur glücklichen Hälfte der Hobbyläufer gehören und mich nicht von diesem Sport verabschieden müssen. Die allgemein gültige Blaupause für den schonendsten Stil existiert leider nicht. Aber es erscheinen immer wieder Studien zum Thema RRI, den «Running-Related Injuries». Eine davon hat mein Interesse geweckt, weil sie Freizeitläufer*innen unter die Lupe nimmt, mit deren Sportverhalten ich mich grob identifizieren kann: im Durchschnitt 41 Jahre alt, mindestens 15 Kilometer pro Woche unterwegs, gesund, keine orthopädischen Einlagen.

Sportliche Normalos, die im Vorfeld untersucht und deren Training und Verletzungen im Rahmen der Studie 52 Wochen lang dokumentiert wurden. Die 89 Frauen und 138 Männer sammelten im Laufe des Jahres 85 Verletzungen an den Beinen oder im unteren Rücken an, die sie über einen längeren Zeitraum beeinträchtigten. Da eingangs Faktoren wie der Laufstil, die Beweglichkeit und die isometrische Kraft beteiligter Muskeln erfasst wurden, konnten sich die Forschenden auf die Suche nach statistischen Zusammenhängen machen. Auffällig war:

  • Besonders oft verletzten sich Proband*innen, deren Abduktoren im Verhältnis zu den Adduktoren schwach waren.

Diese Schwäche bestand also schon zu Beginn, die Verletzung folgte später. Das ist ein interessanter Fakt, denn häufig ist unklar, was die Ursache für entsprechende Beschwerden und was eine Folge davon ist. War zuerst die schwache Muskulatur da oder hat sie nachgelassen, weil der Laufstil aufgrund von Problemen wie Knieschmerzen verändert wurde? Es gibt Hinweise, dass eine Dysbalance zwischen Abduktoren, die das Bein nach aussen bewegen, und Adduktoren, die es nach innen ziehen, wie auch eine schwache Hüftbeugemuskulatur zu Überlastungsverletzungen führen kann. Klassischerweise zum Läuferknie, bei dessen Behandlung ein gezieltes Training der Abduktoren unter Umständen hilfreich ist, wie diese Studie zeigt: Nach sechs Wochen Reha mit Fokus auf der Kräftigung des gluteus medius, also des am Hintern für die Abduktion hauptverantwortlichen Muskels, waren 22 von 24 verletzten Langstreckenläufer*innen beschwerdefrei.

Die Abduktoren werden beim Training gerne vergessen.
Die Abduktoren werden beim Training gerne vergessen.

Ein gezielt gestärkter Muskel kann natürlich nicht das Allheilmittel sein. Aber die Kräftigung der Abduktoren ist zumindest ein Ansatz, der häufig verfolgt wird. Eine der wenigen Erkenntnisse, die ein aktuelles Review zu biomechanischen Risikofaktoren bei Laufverletzungen als halbwegs gesichert gelten lässt, ist, dass eine zu starke Adduktion speziell bei Frauen zu Knieproblemen führt. Der Umkehrschluss, dass die Muskelkraft der Abduktoren bei der Lösung des Problems die entscheidende Rolle spielt, wird jedoch angezweifelt. Generell beweisen widersprüchliche und schwer vergleichbare Studienergebnisse, wie komplex die Lage ist. Kein Wunder, dass nur der Mensch auf die Idee gekommen ist, dauerhaft auf zwei Beinen zu laufen.

Warum nicht mal die Abduktoren trainieren?

Was niemand bestreitet: Egal ob Mann oder Frau, eine gut trainierte Rumpf- und Hüftmuskulatur ist nicht nur bei Beschwerden, sondern grundsätzlich vorteilhaft. Die Abduktoren haben wenig Freude an stundenlangem Sitzen. Sie müssen kräftig sein, um das Becken beim Gehen und Stehen zu stabilisieren. Ausserdem sind sie an der Rotation im Hüftgelenk sowie beim Beugen und Strecken beteiligt. Wichtige Aufgaben, aber spezielle Übungen für sie mache ich trotzdem selten. Und ich wage zu behaupten: So halten es viele. Wenn im Fitnessstudio ein Gerät frei ist, dann meistens die Abduktoren-Adduktoren-Maschine. Ich nehme die vernachlässigten Muskeln jedenfalls in die Liste meiner Baustellen auf: gluteus medius, gluteus minimus, piriformis. Ist notiert, wird trainiert. Seit ich meine Beine ausgiebig dehne, freue ich mich über spürbare Fortschritte in Sachen Beweglichkeit. Die vom Fussball verkürzten Adduktoren werden langsam lockerer, da ist das gezielte Training der Abduktoren ein guter nächster Schritt. Ich glaube, ich fange direkt unter dem Schreibtisch damit an.

Ein Loop-Band habe ich und im Home-Office guckt auch keiner dumm.
Ein Loop-Band habe ich und im Home-Office guckt auch keiner dumm.

Und mache am Abend nach dem Dehnprogramm weiter. Denn im Prinzip brauchst du wenig bis gar nichts, um deinen Abduktoren etwas Gutes zu tun. Du kannst das Bein seitlich liegend anheben oder im Stehen abspreizen. Gewichtsmanschetten oder ein kleines Loop-Band reichen völlig, um den Widerstand zu erhöhen. Das kostet nicht viel Zeit oder Geld und kann einiges bringen.

Ich will mich von knickenden Beinachsen, verdrehten Becken und widersprüchlichen Studienergebnissen nicht verrückt machen lassen, sondern probiere Schritt für Schritt etwas Neues aus. Nur so bemerke ich Verbesserungen. Es gibt übrigens doch gesicherte Erkenntnisse, wie du dich vor Laufverletzungen schützen kannst: Die beste Prävention ist laut dieser Studie, weniger zu laufen. Aber das kann ja nicht das Ziel sein.

Titelbild: Bild: Thomas Kunz

23 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar